Guardini akut | KW 28/2020
Der Ansteckung widerstehen
Der Pestbazillus und die Raserei der Gewalt
Aus Lektüren lernen: Eine Reflexion über Alessandro Manzonis Die Brautleute und Albert Camus‘ Die Pest
Von Joachim Hake
Alessandro Manzonis Roman Die Brautleute (1842) und vor allem Albert Camus‘ Die Pest (1947) werden zurzeit viel gelesen. Der Grund dafür mag sein, dass beide Romane nicht nur von der Verbreitung der Pest und dem verheerenden Wüten eines Bazillus handeln, sondern immer auch von der Verbreitung jener Gefühle und Haltungen, die wir mit Ressentiment, Rache und dem Gebräu von Verdacht, Verschwörungen und Gewalt in Verbindung bringen. Diese gefährlichen, höchst infektiösen Stimmungslagen gehören seit jeher zur Seuchengeschichte der Pest von Bergamo und Mailand des 17. Jahrhunderts (wie bei Manzoni) bis hin zum fiktiven von der Pest verwüsteten Oran in Algerien, das für Camus auch eine Chiffre des Nationalsozialismus ist, dessen Gefährlichkeit mit der der Seuche verglichen wird.
„Alle lagen ständig auf der Lauer“, so Alessandro Manzoni, „jede Handlung konnte Argwohn erregen. Und der Argwohn wurde leicht zur Gewißheit und die Gewißheit zu Raserei. […] Dergleichen geschah nicht nur in der Stadt; die Raserei hatte sich wie die Pest verbreitet.“ Schutz gegen den Pestbazillus und gegen die Raserei der Rache ist bis heute vor allem in der Quarantäne zu finden, dem Schließen der Grenzen, die die Infizierten von den Nichtinfizierten isoliert, eine Wand zwischen beiden hochzieht, die die Übertragung des Erregers verhindert – im medizinischen wie im sozialen und psychologischen Sinn. Die Entscheidung im Kampf mit der Pest aber findet innerhalb der Quarantänezone statt, weswegen beide Romane von diesen Orten handeln, dem Pestlazarett in Mailand von 1630 und dem von außen abgeschlossenen Oran, in dessen Mauern der Protagonist des Textes, Bernard Rieux, ein mutiger Arzt, seinen schweren und lebensgefährlichen Dienst an den Pestkranken tut, wie auch der Kappuzinerpater Cristoforo seinen Dienst der Sterbebegleitung im Pestlazarett von Mailand.
Die entscheidende Frage in Oran lautet: Wie kann der Pest und der Raserei der Gewalt widerstanden werden? Albert Camus legt Bernard Rieux eine Antwort in den Mund, die es weiterhin zu bedenken gilt. In dieser Situation braucht es einen Anstand, der nicht Heroismus meint: „Das ist eine Idee, über die man lachen kann, aber die einzige Art, gegen die Pest anzukämpfen, ist der Anstand.“ Dieser Anstand ist konkret und heißt für Rieux ganz einfach, seinen Beruf auszuüben; er ist Mediziner und so arbeitet er als Mediziner in der von der Quarantäne eingeschlossenen Stadt.
Gott sei Dank leben wir aufgrund des medizinischen Fortschritts und politischer Besonnenheit aktuell nicht in Pestzeiten, aber Vergleiche sind vielleicht doch hilfreich. Ängste vor Infektion mit dem Coronavirus, Verschwörungstheorien und sich verstärkender digitaler Hatespeech erzeugen große Verunsicherungen. Hier braucht es keinen „Aufstand der Anständigen“ mit ihrem unlauteren und nur gespielten Heroismus, sondern den alltäglichen Mut des Anstands im Sinne Bernhard Rieux‘. Für die Zeiten vor dem Ausbruch der Krankheit und der Raserei oder für die Phasen minder schwerer Erkrankung braucht es eine Sammlung alltäglicher Tugenden der Korrespondenz – so der Philosoph Reinhard Knodt in seinem Kommentar zum Projekt #anstanddigital –, die die vergifteten Atmosphären in der analogen und digitalen Welt in positiver Weise verändern können. Das sind die Wertschätzung des Anderen, Empathie und Achtsamkeit, skeptische Urteilsenthaltung, die Schonung des weltanschaulichen Gegners und immer wieder der Willen zur genauen Interpretation der Situation.
#anstanddigital ist ein Projekt der Katholischen Akademie in Berlin e.V. in Zusammenarbeit mit dem Kulturbüro der Evangelischen Kirche Deutschlands.
Joachim Hake ist seit 2007 Direktor der Katholischen Akademie in Berlin. Er studierte Katholische Theologie in Münster und Rom und war von 1997–2006 verantwortlich für das Tagungsprogramm der Burg Rothenfels am Main. Sein Hauptinteresse gilt seither dem Verhältnis von Christentum und Moderne, Kultur und Theologie sowie Kultur und Politik. 2014 ernannte ihn Papst Franziskus zum Consultor im Päpstlichen Rat für Kultur. Zuletzt publizierte er „Abschiede und Anfänge: Notizen“ (St. Ottilien 2015).