Guardini akut | Demokratie als Sprachspiel

Guardini akut | KW 33 bis 34/2021

Demokratie als Sprachspiel

Während des Wahlkampfes ist das Versprechen ein erprobtes rhetorisches Instrument. Doch gerade dieser Umstand gefährdet nicht nur die Verbindlichkeit des Sprechaktes, sondern auch die Demokratie selbst.
Von Claudia Schmölders

Vor zwölf Jahren schrieb ich für eine Sendereihe des NDR einen Text für die Wahl von 2009. Es war die erste Wahl mit Angela Merkel als Kanzlerin. Sie konkurrierte damals gegen Steinmeier und Westerwelle, die zugleich als denkbare Koalitionspartner auftraten, indem sie alle möglichen anderen Koalitionen ausschlossen. Die Medien kritisierten die „Ausschließeritis“ und fürchteten um den demokratischen Wettbewerb. Mein Beitrag damals handelte von der „Kultur des Versprechens“, einer zentralen Figur des politischen Dialogs. Stand sie zur Disposition? Zumal in einem Wahljahr wird ja nahezu jedes Thema in den Sog des Gesprächs- besser: des Streitgesprächs gezogen. Das Wort „Politik“, hat einmal einer der linken Meinungshäuptlinge behauptet, komme von griechisch „pólemos“ = Streit, nicht von „polis“ = Staat. Gemeint hat er damals den Streit, der sich politisch im „Streik“ entlädt, so wie gerade hierzulande im Streik der Bahngewerkschaften.

Der Streik ist ein mächtiges Schwert im politischen Duell – aber ebenso mächtig ist das Versprechen. Ich erinnerte damals an die Fernsehduelle der Kanzlerrivalen, die massenhaft unentschiedene Wähler überzeugen sollten. Staatlich ausgebildete Psychologen stützten ihre Vorhersagen auf die physiognomische Reiz-Reaktions-Maschine – angeblich entscheiden wir ja binnen einer Viertelsekunde über „Führernaturen“ am Bildschirm, und 2009 war zudem ein gewaltiges Darwin-Jahr. Aber in einer Menschengesellschaft, die diesen Namen verdient, gibt es auch andere Kriterien. Viel näher als sexuelle Plan- und Renommierspiele – dachte ich damals wie heute – stehen uns die sozialen Netze, die wir um uns zu weben versuchen. Diese Sicherheit spendenden Gewebe entstehen nicht visuell, sondern sprachlich. Gewebt wird fortwährend und in jeder gesellschaftlichen Sparte, vor allem mithilfe der beiden sogenannten „Sprechakte“: dem Versprechen und der Verabredung, einer Unterart des Versprechens. Das eine wird einseitig ausgesprochen, das andere bedarf der Erwiderung. Ludwig Wittgenstein, der Erfinder des Begriffs „Sprachspiel“, hat beides als Kernstück des menschlichen Sprachverhaltens bezeichnet; Nietzsche hat uns sogar als „das Tier, das versprechen kann“ definiert. Tatsächlich ruht ja unsere ganze Kultur der Vertragsschließung, der Abmachung, des Ehrenwortes, nicht zu vergessen die monetäre Transaktion, also des Geldes, auf eben dieser Kultur des Versprechens und Verabredens. Es ist gleichsam eine Kunst der geordneten Zukunft – und sicher ist sie für die Idee von Kultur ebenso wichtig wie die der Erinnerung, die heute geradezu hysterisch gepflegt wird.

Ist es aber eine Kunst, ist es nicht vielmehr ein Stück Moral? Oder sowohl als auch, und vielleicht ein Handwerk? Jedenfalls erscheint hier der Zeitsinn als eine Art Sozialarbeit. Thomas Luckmann und Peter Berger haben in den 1960er-Jahren die „Conversation“ als Mutter von Realitätsbewusstsein und dichter Gegenwart bezeichnet. Aber Versprechen und Verabredungen organisieren eben auch gemeinsame Zukünfte, oft für unerhört lange Distanzen. Sie verlangen Gedächtnis und Bindungswillen, festigen Verhaltensweisen auf Dauer und dies umso mehr, je rechtsförmiger sie sind, wie etwa ein Zahlungs- oder ein Heiratsversprechen, aber auch je religiöser sie aufgeladen sind, man denke an die Verheißung von der Ankunft des Messias. Von diesen oberen Etagen unserer Kulturwelt strahlt nun auf jedes noch so winzige Versprechen unserer Alltagskultur ab. Man merkt es erst, wenn Versprechen gebrochen werden. Viele Menschen reagieren darauf geradezu panisch und wollen mit wortbrüchigen Leuten nie wieder etwas zu tun haben. Dies wiederum wissen die Politiker – und missbrauchen es trotzdem häufig. Was uns die Kandidaten vorher versprechen, dieses Blaue vom Himmel, ist zwar oft wirklich erwünscht, doch oft auch schon durch die Art des Auftritts obsolet. Wahlversprechen sind mitunter geradezu offene Lügen, Sprachspiele im unguten Sinn des Wortes, jedenfalls dünnes Eis für die Demokratie.

In unserem Jahrzehnt stellt sich ohnehin die Frage, ob es in einer von Werbung und Lüge diktierten Kommunikation überhaupt Rechtsgefühle beim Aussprechen von Versprechen geben kann. Donald Trump jedenfalls verpfändete sich mit seinem Versprechen („America First“) der eigenen Partei, als bestehe die Nation allein aus ihm und ihr. Andererseits erhob er die Lüge („stolen election“) zum Unterpfand einer kriminellen Verabredung. Hohle Versprechen und Lügen vernichten jede Realitäts- wie auch Zukunftsgarantie, ohne die keine Gesellschaft möglich ist. „Das Herzstück der direkten Demokratie ist aber das Gespräch, der Prozess der Meinungsbildung“, verkündete vor kurzem die Broschüre einer Initiative namens Abstimmung 21. Bei Entscheidungen über unser künftiges Zusammenleben soll die politische Diskussion nach Schweizer Vorbild gestützt werden durch vollinformiertes Fragen und Antworten, den basalen Gesten der dialogischen Szene. Aber sie müssen gepflegt und benutzt werden, wie zwei Hände bei der Begrüßung oder beim Abschied. So war es jedenfalls vor Corona.


 

Die Kulturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Übersetzerin Claudia Schmölders war viele Jahre lang Verlagslektorin, zuletzt im Insel Verlag Frankfurt am Main, sowie Dozentin an der Humboldt Universität zu Berlin. Sie ist Autorin zahlreicher Texte für Radio und Print sowie von Büchern wie etwa zur „Kunst des Gesprächs“ (dtv 1979) oder auch zur Geschichte des Physiognomik („Hitlers Gesicht“ C.H.Beck 2000).

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