Guardini Akut | Corona. Vorläufiger Rückblick auf ein epochales Ereignis

Guardini Akut | KW 48/2020

Corona. Vorläufiger Rückblick auf ein epochales Ereignis

Von Pater Elmar Salmann OSB

Mitte März. Ein ungläubiges Erschrecken, eine Beklemmung ergreift alle Gemüter, eine ganze Gesellschaft. Angesichts einer unsichtbaren, unabsehbaren, nicht zu kalkulierenden Bedrohung wird innerhalb einer Woche eine Gesellschaft bis in die familiären Kontakte hinein still- und umgestellt. Wurde bisher Nähe gepredigt, Kommunikation, Flexibilität, Spontaneität, offene Grenzen, Tourismus, so galten auf einmal neue Normen: Distanz, Hausarrest, eherne Regeln, aseptische Reinheitsgebote, Passierscheine, Abschottungen. Alle gängigen Kreisläufe der Wirtschaft, des Geselligen, des Verkehrs wurden unterbrochen, ihrer flüssigen Normalität beraubt. Archaische Atmosphären der Exkommunikation und Kontrolle waren auf einmal selbstverständlich. Und man sah von der Gefährdung so gut wie nichts. Das Virus blieb ebenso unsichtbar wie die Berechnungen der Virologen. Man musste halt dran glauben. Alle schlossen: Geschäfte, Restaurants, Firmen, Verkehrsbetriebe wie die Lufthansa, Kirchen, Schulen, Kitas, ein jeder wurde auf sich zurückgeworfen.

Es waren Notstandsverordnungen, vorbei am Recht, am Parlament, Dekrete, notwendig, unabwendbar, aber ein Riss bleibt. Die Politik macht Heilsversprechungen unendlicher Milliardenflüsse, fast könnte man von vollkommenen Ablässen der Entschuldung sprechen – und weiß, dass sie zugleich einen großen Teil der Einnahmen verliert. Verlorene Zuschüsse, woher – wohin, wann kommen sie wie an? Und sie können die Verzweiflung und das Gefühl der Beraubung und der Kränkung, der Verzweiflung in der Wirtschaft und den Familien nur mildern, aber nicht aufwiegen.

Noch schlimmer, noch künstlicher die sogenannten Lockerungen, das langsame, täppische, ungelenke, behinderte Sich-Einfädeln in die halbe Wirklichkeit, in die Wiedererstattung eines Vorschimmers von Normalität. Wollen wir zu ihr zurück, und wie – oder sind wir Verwandelte, hat sich da etwas verschoben in unserem Selbst- und Weltbild?

Bei alldem fehlt weitgehend die Stimme der Theologie, der Kirchen, die sich restlos den Regeln unterwerfen und kaum eine Außenperspektive haben. Gibt es eine solche, wie könnte sie aussehen? Zunächst einmal habe ich zu Beginn dieser kleinen Betrachtung versucht, der Bestürzung, der Mischung aus Lähmung, Staunen und Erregung Raum zu geben. Es wäre viel, wenn wir eine Sprache, einen Tonfall fänden, um der Wirklichkeit standzuhalten, dann sie womöglich zu bestehen und gar zu deuten. Damit sind wir aber schon den Grenzen dessen angelangt, was den Sterblichen möglich ist.

Als erstes ist dem Unheimlichen eine Kontur zu geben. Dem unsichtbar Bedrohenden, unfasslich überall Präsenten des Virus, der uns aus dem Heim, dem sicheren Ort vertreibt, vor dem man nirgends sicher ist – und doch im realen Leben überhaupt nicht auffällt. Diese Mischung, von Freud und dem späten Heidegger in den 30er Jahren beschrieben, zeitigt viele Folgen.

Sie befeuert Ängste, Projektionen, Abwehrmechanismen, die seltsame Bereitschaft des Menschen zu apokalyptischen und Verschwörungserzählungen, um endlich dahinter zu kommen und sich durch extreme Bilder An- und Vorwegnahmen zu sichern. So schlimm ist dann die Wirklichkeit doch nicht, wie sie in den Phantasien ausgemalt wird. Es gibt heiße und kalte Apokalypsen. Die erste ist dramatisch wie in der ‚Geheimen Offenbarung‘ des Johannes, da gibt es einen Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen (Amerika und China, geheime Bünde, Seilschaften), Tod und Gericht. Und dann die grau kaltgestellte Welt Kafkas und deren Grauen: alles, eine ganze Gesellschaft stillgelegt, verdächtigt, Standbilder eines Standrechts. Öde Straßen, verborgene Instanzen, die alles bestimmen. Daran heften sich Ahnungen, Erzählungen, Mythen von Verschwörungen, eine geheime Leidenschaft des Menschen, der hinter allem etwas wittert, geheimen Logiken auf die Spur kommen will, sich als Detektiv und Magier der Entlarvung fühlt. Darin ist man schnell Meister, findet überall Symptome und Indizien, ob es nun China, Amerika, Finanzmächte, jüdische Bankiers oder die Herrschenden sind, die die Demokratie aushöhlen wollen, alles kann und muss im Internet als Sündenbock herhalten.

Und in und hinter alldem nistet die stille Verzweiflung, der Streit in den Familien, die geheime Gewalt, die schiere Not, das Starren in Abgründe menschlicher und wirtschaftlicher Zukunft und die Frage: Was kommt danach, wie geht es weiter?

Wie hätten die Kirchen damit umgehen können, welche Sprache finden? Zunächst stünde ihnen ein unermesslicher Raum für Sprache und Ausdruck offen, ohne Stereotypen. Wie viel Erzählungen aus Bibel und Kirchengeschichte wären da lebendig zu erinnern und neu zu entdecken gewesen, wie viel an dramatischen Brüchen, Wandlungen, Passagen. Vom Exodus bis zum Untergang Jerusalems, von der Lebensparabel Jesu bis zu den ungeheuren Übergängen in der Geschichte und den Gestalten des Christentums. Und: Was wäre aus der eigenen Lebenserfahrung zu mobilisieren, um sich den Gesetzen der Wandlungen der Existenz anzunähern? Und war nicht einst das Gebet eine wichtige Fassung solcher ambivalenten Erfahrungen, im Hören, Erzählen, Schweigen, Staunen, Danken, Preisen, Klagen, Bitten, Anheimgeben, Vertrauen, in Widerstand, Aufstand und Ergebung? Und das alles in tiefer Einsamkeit und als gemeinschaftlicher Gestus.

Und endlich: Kann man von Gericht und Aufrichtung seitens Gottes unserer Zeit gegenüber sprechen? Sind wir nicht an eine Schwelle gekommen, wo unser Steigerungswahn des „Höher, Tiefer, Weiter, Aufgeklärter“ an Gewinn und Mobilität an eine Schallgrenze kommt – ebenso wie der scheinbar entgegengesetzte Sicherungswahn der Prävention und Risikominimierung, also die bis zum Schwindel reichende Schiffschaukel von Sicherheit und Freiheit? In alldem offenbart sich unsere Unfähigkeit, in die Endlichkeit aller Dinge, auch des Lebens einzuwilligen. Wird nicht jetzt unser Unendlichkeits- und Perfektionswahn aufgedeckt? Würden wir nicht von vielen Zwängen befreit? Und ist nicht auch eine geheime Erleichterung in uns darüber, dass vieles wegfällt – und wir es kaum vermissen?

Führt uns also das Unheimliche womöglich ins Heimliche, ins Leb- und Bewohnbare, Bergende? Man kann sich nicht genug darüber wundern, wie zivilisiert die Gesellschaft das Auferlegte angenommen und ausgetragen hat, mit wieviel an Tapferkeit, Geduld, Solidarität, Einwilligung, Aufmerksamkeit. Jeder hat die Mischung aus Lähmung und Aufregung gespürt, es ging an und auf die Nerven, und doch, da sind Ressourcen, die ungewöhnlich und unerwartet sind. Wie viel auch an Improvisation, Überlebenswillen, Unterstützung, Wandlungsfähigkeit, vor zwei Monaten noch undenkbar.

Das gilt von der kleinen Welt unseres Konvents, der Bereitschaft, auf Neues zu reagieren, die Arbeiter von Westfleisch aufzunehmen, die Änderungen in Liturgie und Betrieben zu gestalten; es braucht da das einfache Miteinanderhaushalten und eine ebenso große Aufgeschlossenheit. Dies gilt auch für die ganze Gesellschaft wie in jedem kleinen Leben. Von der finanziellen bis zur menschlichen Not, alldem musste in unerhörter Form standgehalten und es schöpferisch angegangen werden. Und noch etwas: Vielleicht hat es nie eine so dichte und weitgespannte Welterfahrungsgemeinschaft gegeben, eine Solidarität im Erleiden wie in der Tapferkeit des Durchstehens, der Ausgesetztheit wie der Hilfe. Manchmal denke ich, dass die Wissenschaftler die heutigen Priester und Mönche sind, die karthäuserhaft jahrelang an einem winzigen Detail forschen, aus dem dann Hilfe für viele erwachsen kann. Aber wie oft bleibt eine solche Suche auch vergeblich?

Ob auch das Gebet, von der Öffentlichkeit abgeschnitten, uns etwas Inniges, Anderes hat entdecken lässt? Und wie viel an Phantasie des Möglichen, an neuen Kommunikationsformen sind erschlossen worden, im weltlichen wie im geistlichen Bereich, eine andere Art der Ökumene. Wird das zu Veränderungen und Entdeckungen im kirchlichen Betrieb führen, zu neuen Formen und Foren einer gemeinsamen Liturgie, bunter, laikaler, einsamer und gemeinschaftlicher zugleich, mystischer und kommunikativer? Wird die Kirche ärmer, funktionsloser werden – um was wie zu entdecken? Wird die Politik zu einem Stil finden, der der Wirklichkeit gemäßer wäre? Das gilt von allen repräsentativen Formen der Gesellschaft, den Banken, Europa, den Parteien, den Kirchen. Sie alle stehen unter Verdacht, die Wirklichkeit zu verfälschen, werden bestritten im Namen eines Ideals unmittelbarer Partizipation. Vom Klima, Geldkreislauf, Segen und Not einer globalen Welt gar nicht zu reden. Nicht dass es Lösungen gäbe, aber doch Weisen des Umgangs damit. Vielleicht sind wir deshalb in die Bedrängnis gekommen, um dazu etwas hinzuzulernen.

Gott scheint in alldem nicht vorzukommen, kaum vermisst zu werden. Ob Er freies Geleit gibt, Zeuge unseres Lebens und seiner Wandlungen wäre, ein Blick, der uns wahrnimmt? Ein agnostischer Philosoph und Psychiater aus Mailand, Umberto Galimberti, hat nach dem Tod seiner Frau einmal bemerkt, ihm fehle nun ein solcher Zeuge, ein Blick, der sein Leben aufnähme. Und er meint, dass man sich Gott allenfalls so vorstellen könne.

Während der gesamten Krisenzeit haben wir bei Tisch ein wundersames Buch gelesen: Volker Reinhardt, Die Macht der Schönheit. Eine Kulturgeschichte Italiens (München 2020), in Wahrheit auch eine Kirchen- und Politikgeschichte. Staunend haben wir die Wandlung der Aggregatzustände in Kunst, Gesellschaft, Kirche, Christentum und Politik wie in der Biographie großer Menschen oder der Entstehung von einmaligen Werken der Kultur von 1100 bis heute verfolgt. Ein großartiger Kontrast und Kommentar zum heutigen Erleben. Eine Hochschule, um zu lernen, wie anders Gott jeder Zeit nahe und fern ist, wie vielschichtig die Konstellationen der Geschichte sind, wie unerschöpflich reich auch jedes Werk, jede Epoche, jeder Mensch sein und das Geheimnis des Lebens spiegeln und vergegenwärtigen kann. Ob das nicht eine Verheißungsspur für uns wäre?


Der Benediktinerpater Prof. Dr. Elmar Salmann ist ein Theologe und lehrte von 1981 bis 2012 Systematische Theologie und Philosophie an S. Anselmo und der Gregoriana in Rom. Seither arbeitet er als Seelsorger und in der Priesterfortbildung. Er interessiert sich für das Verhältnis von Moderne und Christentum, Rationalität und Mystik, Gnade und Erfahrung – und deren Urmatrix und Horizont, den Raum des trinitarisch-‚demokratischen‘ Gottes.

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