Guardini akut | Bewahre mich, Herr, vor dem Hass

Guardini akut | 10. März 2022 | Sonderausgabe zum Krieg in der Ukraine

Bewahre mich, Herr, vor dem Hass

Von Piotr Kubasiak

Am 23. Mai 2015 erschien während des Finales des Eurovision Song Contests langsam aus der Dunkelheit der Wiener Stadthalle eine junge, beindruckende Gestalt im weißen Kleid mit fast flüsternder Stimme: „We believe in a dream. Praying for peace and healing. I hope we can start again.“ Die Stimme wurde lauter, die Bühne heller, die Inszenierung einer Neuschöpfung der Erde im Hintergrund beindruckender. Die Versprechung der schreienden und betenden „million voices“, welche die Russin Polina Gagarina in ihrem Lied gab, quittierte der legendäre ARD-Kommentator des ESC mit einem gezielten Versprecher: „Großes Kino vor der Weltkugel. Und besser kann man eine solche Ballade kaum singen. Aber ihr Friedensappell in Gottes… pardon, Putins Ohr…“.

Welches Ohr auch immer der Adressat war, die Botschaft ist ersichtlich nicht angekommen. Ganz im Gegenteil: Das, was man längst hoffte, nur in den Geschichtsbüchern lesen zu müssen, ereignet sich vor den Augen der ganzen Welt: Russland führt einen Vernichtungskrieg gegen einen souveränen Staat, ermordet kaltblutig und bewusst unschuldige Menschen (dabei ist es egal, ob es ‚Zivilisten‘ oder Soldaten sind – die zweiten sind nämlich genauso Väter, Söhne und Ehemänner).

Die beiden meistgestellten Fragen sind wohl: „Wie ist das möglich?“ und „Kann ich etwas tun?“. Für beide Fragen findet man schnelle Antworten: Ja, ich kann etwas tun – spenden oder als Freiwilliger mithelfen, um das Leid wenigstens ein bisschen zu lindern. „Wie ist das möglich?“ – Eine Reihe von Wissenschaftlern und Journalisten erklärt die Hintergründe, zählt Fehler der Vergangenheit auf und mutmaßt, was in Putins Kopf vor sich geht.  Beides fühlt sich aber nicht ausreichend an, beides ist zu wenig.

Was kann man sonst tun? Als Glaubender beten, als Wissenschaftler weiter differenzieren. Als Theologie- und Philosophie-Geschulter vielleicht die Theodizeefrage auspacken und darin die beiden vorherigen Aktivitäten vereinen. Doch alle drei erscheinen als eine Lüge: Man will nicht beten, weil man gerade an kein „peace and healing“ glaubt. Man will nicht differenzieren, weil es einem in diesem Kontext nur zynisch vorkommt. Das Leibniz‘sche Diktum von „Die beste aller möglichen Welten“ ist hier wohl ein schlechter Witz.

Es wird einmal der Tag kommen, an dem keine Bomben mehr über Kiew fallen; es wird der Tag kommen, an dem man selbst wieder differenzieren wird; es wird der Tag kommen, an dem man wieder um Frieden beten will. Noch ist es aber nicht so weit. Das Einzige, was im Moment über die Lippen kommt, ist ein Lied, ein Flehen, an das Donald Tusk 2018 in einer Dankesrede in Dortmund erinnerte, nämlich die informelle Hymne der Solidarno??-Bewegung: „Gebet bei Sonnenaufgang“ – ein Gedicht von Natan Tenenbaum, das im Kommunismus von vielen gesungen wurde.

Der Beter schiebt darin seine gegenwärtige Lage auf den „Willen Gottes“, bewertet sie nicht weiter, schreit aber entschieden in jeder Strophe in den Himmel „Aber behüte mich o Herr vor Verachtung, vor dem Hass beschütze mich, Gott“. Dem ist im Augenblick nichts hinzuzufügen, außer: Bevor die Worte Selenskyjs vom Licht, das über die Dunkelheit triumphierend wird, in Erfüllung gehen, möchte man das Lied fortschreiben: Lass nicht zu, dass die Dunkelheit des Hasses und der Verachtung mich – noch tiefer – erfasst.

Weitere Beiträge der Sonderausgabe:
Friedensnote | Von Prof. Michael Rutz
Krieg in Europa | Von Prof. Dr. Christoph Jäger
Europa – Wirklichkeit und Aufgabe | Von Romano Guardini

Grafikdesign Anja Matzker

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