Theologische Predigt | Wunder geschehen

30. Januar 2021 | Theologische Predigtreihe „Wo ist Christus?“

Wunder geschehen

Predigt: Pater Dr. Sebastian Maly SJ

Wir hören heute die erste Heilungsgeschichte, die der Evangelist Markus von Jesus erzählt. Selbst die unreinen Geister erkennen, wen sie da vor sich haben: den Heiligen Gottes. Jesu Vollmacht ist bis in alle Winkel unserer Wirklichkeit zu spüren.
Wie schön wäre es, auch wir hätten heute solche Vollmacht in unseren Worten und Werken. Wir könnten Menschen wie dem Besessenen so unkompliziert helfen, einfach ein Wunder geschehen lassen. Jesus droht dem unreinen Geist: Schweig und verlass ihn! Und er verschwindet. Jesu Wort wirkt Wunder.

Doch wer glaubt heute noch an Wunder? Nena jedenfalls tut es. Sie kennen Nena hoffentlich noch? 99 Luftballons auf ihrem Weg zum Horizont? 1988 kommt ihr erstes Kind, Christopher, behindert und mit geringen Überlebenschancen zur Welt. Die Ärzte sagen ihr, dass er nie würde lachen können. Doch dann kam der Moment, in dem ihr Sohn sie plötzlich anlächelte. Im Krankenhaus schrieb sie daraufhin den Song „Wunder geschehn“:

„Wunder geschehn ich hab’s gesehn
Es gibt so vieles was wir nicht verstehn
Wunder geschehn ich war dabei
Wir dürfen nicht nur an das glauben was wir sehn.“

Nenas Sohn starb nach nur elf Lebensmonaten. Das nimmt dem Wunder seines Lächelns nichts von seiner Bedeutung.

Ich bin mir ziemlich sicher, jede und jeder von Ihnen hat schon einmal ein solches Wunder erlebt, obwohl dabei vielleicht gar nichts Übernatürliches passiert ist, sondern vielmehr etwas vielleicht ganz Unscheinbares, Kleines und dennoch Unerwartetes. Etwas, das unsere tiefste Hoffnung erfüllt und zeigt, dass das Leben immer wieder siegt. Ja, Wunder gibt es immer wieder…

Welche Botschaft der Wundergeschichten sollte auf keinen Fall verlorengehen, auch wenn wir uns heute schwer mit dem allzu Wundersamen und Wunderbaren tun? Ich bin zu Beginn meiner Ausbildung zum Systemischen Therapeuten für mich völlig überraschend auf das Thema Wunder gestoßen und zwar in Form der sogenannten Wunderfrage, die in Beratung oder Therapie angewendet wird.
Stellen Sie sich vor, Sie gehen heute Abend ins Bett. Es ist eine ruhige Nacht, Sie finden zu einem erholsamen Schlaf. Angenommen in der Nacht ist ein Wunder geschehen, während Sie schliefen. Die Probleme, die Sie heute hierher mitgebracht haben, sind gelöst, einfach so. Aber da das Wunder geschehen ist, während sie geschlafen haben, wissen sie nicht, dass es passiert ist. Wenn Sie nun am nächsten Morgen erwachen: Wie werden Sie merken, dass das Wunder sich ereignet hat? Was wäre anders? Und könnte jemand anderes, dem sie begegnen, bemerken, dass sich das Wunder ereignet hat? Woran würde er oder sie es merken? Und wann kam es in den letzten Tagen, vielleicht nur für eine Stunde oder kürzer, vor, dass die Situation ein bisschen so war wie am Tag nach dem Wunder? Und so weiter…
Was macht diese Wunderfrage? Sie versetzt das Gegenüber an einen Zeitpunkt, an dem die Lösung schon da ist. Durch das Erleben der Lösung wird diese als Möglichkeit bestätigt. Die Wunderfrage lenkt den Blick weg von den Problemen, die auch weiter da sind, auf das, was an Lebensmöglichkeiten da ist. Sie bietet einen Perspektivwechsel an.

Was dieser Perspektivwechsel bedeutet, habe ich am eigenen Leib erfahren, allerdings ohne die Wunderfrage zu kennen. Vor fast 10 Jahren hatte ich eine echte Lebenskrise. Ein Burn-Out. Über die Jahre hatte sich durch zu viel Arbeit und zu wenig Erholung bei mir etwas angestaut. Das äußerte sich körperlich und seelisch. Ich wollte so schnell wie möglich wieder zum Normalzustand zurück. Noch nie hatte ich in meinem Leben vorher eine solche Phase der Krankheit, die mich aus meinem Leben herauswirft. Also betete ich, dass ich möglichst schnell wieder in meinen Alltag zurückkehren möge, dass diese ‚Erkältung der Seele‘, von der der behandelnde Arzt sprach, bald wieder aufhörte. Ich betete um ein Wunder, ein nicht allzu Großes. Das wäre doch für Gott sicher möglich.
Abgesehen davon, dass die Heilung nicht so schnell ging, merkte ich etwas anderes: dass es doch eigentlich das größere Wunder wäre, wenn ich aushalten könnte, dass kein Wunder passiert! Also lernte ich ein anderes Beten: Ich bat Gott um die Kraft, diese Krise zu durchstehen. Nach und nach entdeckte ich, was mir in dem so veränderten Alltag Hoffnung schenkte, Freude gab. Ein einfacher Spaziergang, zehn Minuten still am Fenster stehen und hinausschauen, ein unerwarteter Brief, das Lesen in einem guten Buch – in dem und noch vielem anderen lag plötzlich Trost, in aller Einschränkung Verheißung neuen Lebens.

Dieser Perspektivwechsel, dieser Blick auf die Möglichkeiten, das sollte uns Christ*innen nicht fremd sein. Letzte Woche haben wir im Evangelium gehört, dass Jesus verkündet, das Reich Gottes sei nahe. Er fordert uns auf, unser Denken zu erneuern, umzukehren und an das Evangelium zu glauben. Durch seine Verkündigung und sein Handeln löst er die Verheißung des Reiches Gottes jedoch gerade ein. Den Menschen wird sichtbar und spürbar, dass schon eingetreten ist, was noch kommen soll. Das Reich Gottes ist schon mitten unter uns, es ist nicht nur nahe.
Das alles will uns glauben lassen: Gott ist schon längst überall dort, wo wir ihn zu suchen beginnen. Oder wie Pater Alfred Delp SJ es ausgedrückt hat: „Lasst uns dem Leben trauen, weil wir es nicht für uns selber leben, sondern weil Gott es mit uns lebt.“ Das ist das neue Denken, die Spur des Evangeliums, der wir folgen dürfen: Gott ist in dieser Welt und auch in meinem Leid, meiner Freude, meinem Leben. Jesus will nicht zuletzt durch all seine Wunder zeigen, das uns nichts von Gottes Gegenwart trennen kann.
Was das für mein Leben bedeutet, das gilt es zu erschließen. Ja, wir Christ*innen könnten Menschen sein, die in der Wirklichkeit leben und doch die Möglichkeiten entdecken – bei sich und bei anderen. Robert Musil schreibt zu Beginn seines Opus Magnum, „Mann ohne Eigenschaften“, davon: „Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird es bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann […]. Wer ihn besitzt, sagt beispielweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgendetwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“
Menschen mit Möglichkeitssinn, die zu allem allzu Wirklichen noch einmal sagen: Es könnte auch anders sein – das klingt alles schön und gut. Doch was ist, wenn mir in meinem eigenen Leid, in meiner eigenen Krankheit oder schlicht in meiner eigenen Begrenztheit mein Möglichkeitssinn wie verstopft, erloschen oder taub scheint? Wenn ich mir nicht so einfach einreden kann: Es könnte auch anders sein?
Romano Guardini kannte dieses Zweifeln und Verzweifeln an dem, was möglich wäre, aber doch nicht wirklich wird. Mit Blick auf die herausfordernde Botschaft der Bergpredigt schreibt er in „Der Herr“: „Als Jesus die Bergpredigt sprach […], stand dahinter eine große Möglichkeit. Alles war darauf bezogen, dass das Reich Gottes nahe sei. […] Dieses Reich wäre gekommen, wenn die Botschaft Glauben gefunden hätte.“ Wir Menschen haben uns als zu schwach für diese Botschaft erwiesen. Jesu gewaltsamer Tod ist dafür Beleg.
Doch das ist für Guardini nicht das letzte Wort. Nach Jesu Auferweckung von den Toten sammeln sich seine Jüngerinnen und Jünger zur Kirche. Für Guardini ist gerade sie, die Kirche, „Fürsprecherin des Möglichen“. Ihre Aufgabe sei es „den Anspruch Christi, der so, wie er ist, die Kräfte der Menschen zu übersteigen scheint, in ein Verhältnis zu ihrer Möglichkeit zu setzen, Übergänge zu schaffen, Brücken zu bauen, Hilfen zu geben“.

Kirche als Fürsprecherin des Möglichen; eine die Übergänge schafft, Brücken baut, Hilfen gibt – was ist das für ein wunderbares Bild von Kirche!
Alleine auf ein Wunder zu hoffen oder nach den Spuren das Möglichen, des Reichs Gottes unter uns zu suchen, ist schwer. Viele von Ihnen kennen vermutlich die berühmten Gedichtzeilen von Hilde Domin: „nicht müde werden, / sondern dem Wunder / leise wie einem Vogel / die Hand hinhalten“. Kirche, das könnte eine Ort sein, an dem ich die andere oder den anderen stütze, wenn sie oder er zu müde ist, dem Wunder die Hand hinzuhalten.
Gerade in diesen verrückten, von der Pandemiewirklichkeit gesättigten Zeiten können wir das als Einladung hören: Schenken wir einander unseren Möglichkeitssinn! Wir brauchen einander, den gütigen, großzügigen Blick des anderen, der meine Möglichkeiten sieht, die ich vielleicht gerade nicht schauen kann. Lassen wir so einander spüren, dass Gott unser Leben mit uns lebt. Vielleicht fliehen die unreinen Geister vor uns dann nicht mit Geschrei. Aber wir lehren sie das Fürchten. Das wäre ja auch ein kleines Wunder.

Foto & Grafikdesign Anja Matzker

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