27. Juni 2020 | Theologische Predigtreihe „Wo ist Christus?“
„Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen“
Predigt: Marc Grießer
Folgt der Wissenschaft – diesen Ruf konnte man auf dem Höhepunkt der Coronakrise besonders laut hören. Schien er doch auch notwendig, da überall die Verschwörungstheoretiker lauern, um Menschen für ihre kruden Ansichten zu gewinnen. Umso wichtiger war es, einen klaren Kopf zu bewahren und der Wissenschaft zu folgen. Doch spätestens jetzt, da die Krise zumindest im allgemeinen Bewusstsein abflaut, reibt sich mancher verwundert die Augen: DieWissenschaft gibt es überhaupt nicht. Ob Masken nun definitiv geholfen haben oder nicht, wie genau und ob der Lockdown nun geholfen hat oder nicht – es scheint zu jeder Position eine Studie zu geben, die sie stützt. Es gibt nicht die Wissenschaft, sondern nur unterschiedliche, nachprüfbare, weil durch Argumente gestützte Einschätzungen von Wissenschaftlern. Und jetzt? Wem soll man nun folgen, glauben, vertrauen? Das hat sich schon vor mehr als 100 Jahren ein junger Mann gefragt, der sich in den Wissenschaften ausprobiert hatte; er hatte das Studium der Chemie und dann der Nationalökonomie abgebrochen und überlegte nun, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Der christliche Glaube war ihm inmitten der Wissenschaft fraglich geworden, und dennoch war es ein Wort des Evangeliums, das ihn aus der Krise führte – jenes, das wir eben gehört haben: „Wer aber das Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.“ (Mt 10,39) Dieser junge Mann war Romano Guardini und er erkannte, dass er sein Leben geben müsse, um es erst wirklich zu finden. Aber wem? Gott? „Um meinetwillen“, also um Christi willen, sagt das Evangelium. Das Leben geben – nicht um eines nebulösen Göttlichen willen, sondern um des Gottes willen, der uns in Christus und seiner Kirche begegnet, so finde ich mich selbst: Das erkannte Guardini an diesem Tag. [Vgl. Romano Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, 69-71.] Das Wort vom Geben des eigenen Selbst, der Seele, wie es die alten Übersetzungen sagen, blieb für ihn das Leitwort für sein Leben und Denken. Wem folgen wir nun, wer gibt uns Orientierung? Folgen wir der eigenen inneren Stimme, die allerdings – bei Licht betrachtet – wahrscheinlich ein ebenso vielfältiger Chor ist wie der der Wissenschaftler? Können oder wollen wir das überhaupt noch: die Hingabe unserer Seele an Gott, der uns in Christus begegnet?
So viel stellt dem unsere Zeit entgegen, es beginnt schon mit der Absage an Gott. Ist der nicht eine Erfindung des Menschen, der Geborgenheit braucht, Orientierung, der seinem Leben ein bisschen Verzierung und Bedeutung geben will? Seit Jahrtausenden war es für die Menschen klar, dass es Gott gibt, auch weil fast alle Völker unabhängig voneinander irgendeine Form von Religion haben, weil das Göttliche mehr oder weniger überall verehrt wird. Den ‚Konsens‘ – also die Übereinstimmung – der Völker nannten das die alten Philosophen. In der Neuzeit begann man das abzustreiten; das ist doch nur eine Erfindung der Menschen, man kann sich vieles in der Phantasie ausmalen, aber Gott existiert eben nicht. Ist das so? Ich behaupte, wir Menschen können uns nichts gänzlich Unwirkliches ausmalen. Der Mensch kann nichts erfinden, indem er etwas, das nicht existiert, ins Dasein ruft. Erfinden heißt doch immer: etwas vorfinden, sich dazu verhalten und dann vielleicht umformen und in Dienst nehmen. In der Naturwissenschaft entdecken wir Kräfte und Gesetzmäßigkeiten in der Natur und nutzen sie dann für unsere Zwecke; das nennt man Technik. Phantasiewelten in Film und Literatur mögen so nicht existieren, aber ihre Bausteine sind doch der Wirklichkeit entnommen, auch da gibt es Liebe und Hass, Schuld und Verantwortung, Helden und Feiglinge, kurz gesagt: all das, was wir – zumindest im Ansatz – aus unserem eigenen Leben kennen. Wir können nichts gänzlich Unwirkliches erfinden, wir bedienen uns aus der Wirklichkeit. Gewiss ist auch die Idee Gottes umgeformt und missbraucht worden, die Religions- und auch die Kirchengeschichte zeigen das, aber letztlich haben Menschen sie vorgefunden. Gott ist wirklich, es gibt ihn, der Mensch kann letztlich gar nichts erfinden.
Selbst wenn man nun eingesteht, dass Gott tatsächlich existiert, soll ich ihm tatsächlich mein Leben geben? Ist das nicht, um es mit starken Worten zu sagen, eine Vergewaltigung meiner Freiheit? Wenn wir genau hinschauen, so ist Freiheit immer auch eine Form der Hingabe. Man fängt – bewusst oder unbewusst – etwas an mit seinem Leben, wirft sich hinein in eine Aufgabe oder auch einfach in das prickelnd Neue, das das Leben bereithält. Selbst in einer sehr banalen Form der Freiheit, wenn man sich einfach ausleben will, Spaß haben will, wirft man sich in das Abenteuer, den Rausch, das Neue oder was auch immer; man gibt sich ganz; das macht das Tiefe, Große aus … aber die Antwort bleibt aus. Ernüchterung macht sich breit, die man entweder betäubt durch die nächste Erfahrung oder mit ein paar schlauen Sprüchen verbrämt wie „Es gibt kein Scheitern“ oder „Ich habe wahnsinnig viel daraus gelernt“. Bleibt nicht doch eine Leere, die eine Antwort erwartet oder ersehnt hätte?
Vielleicht würde mancher entgegnen, es sind doch Werte, die uns leiten, denen wir folgen: Hilfsbereitschaft, Respekt usw. Mir scheint, dass das Verwirklichen solcher Werte auch eine Form der Hingabe ist: an eine Aufgabe, an ein Miteinander. Betonen Menschen nicht immer wieder, dass selbstloses Helfen etwas sehr Erfüllendes ist? Ich bin überzeugt, dass in solchem Helfen, im Verwirklichen solcher Werte immer schon die Hingabe an etwas Größeres liegt, nicht nur das Engagement in der konkreten Situation, für den konkreten Menschen, es gehört doch auch der Glaube dazu, dass Hilfsbereitschaft grundsätzlich etwas Lohnendes ist, das Engagement, oder anders gesagt, Hingabe fordert.
Es zeigt sich also, dass Freiheit ein Sich-Geben einschließt, das auch Antwort sucht. Gerade indem ich mich von Werten leiten lasse, lebe ich eine Hingabe an etwas Größeres, ein Ideal, eine Vorstellung. Aufgrund dieser kleinen Betrachtung scheint die Hingabe meiner selbst an Gott, der mir in Christus begegnet, nicht mehr so fremd, ja viel eher dem Wesen von Freiheit und Werten entsprechend. Ist es nicht sogar vernünftiger, mich nicht einfach einem Ideal zu geben, sondern dem lebendigen Gott? Schenken macht Freude, weil das Leben selbst Geschenk ist, weil das nicht nur ein Bild, sondern Wirklichkeit ist, da ist einer, der schenkt: der lebendige Gott. Wenn wir nach ihm suchen, entdecken wir jenen verbindenden Grund, der uns erschließt, was Menschsein heißt. Guardini sagte es 1952 beim Katholikentag in Berlin so: „Nur wer Gott, kennt, kennt den Menschen.“ [Würzburg 1952.] Ich glaube, Freiheit und das Leben von Werten erreichen eine ganz andere Tiefe, wenn da einer ist, der mir antwortet, wenn ich nicht nur einem – vielleicht letztlich papierenen, abstrakten – Ideal diene. Auch der freie Mensch, der versucht, nach Werten zu handeln, wächst in Begegnung und Kommunikation. Oder genauer: wächst da, wo Hingabe auf Hingabe trifft. Der Gott, an den wir glauben, ist kein papiernes Ideal, er ist der, der sich selbst gegeben hat, der nicht ausgewichen ist, sondern sein Kreuz auf sich genommen hat. Der Mensch wächst, wo Hingabe mit Hingabe beantwortet wird.
Guardini hat diese Hingabe seiner selbst in den Mittelpunkt seines Denkens und Lebens gestellt. Der Mensch wird er selbst in dieser Hingabe an Gott, es gibt keinen Weg zum Menschen an Gott vorbei. Dieser ist keine Erfindung, da der Mensch letztlich nichts erfinden kann. Freiheit schließt ein Sich-Geben ein, das auch Antwort sucht, das Leben von Werten ist immer auch Hingabe an ein Ideal, etwas Größeres. Diese Suchbewegung, diese Hingabe, findet erst die letzte Erfüllung, wenn sie selbst auf Hingabe trifft – die Hingabe des lebendigen Gottes, der in Jesus lebt und stirbt.
Foto & Grafikdesign Anja Matzker