29. Mai 2021 | Theologische Predigtreihe „Wo ist Christus?“
Gottes Macht und Menschen Macht
…heilbringend und missbrauchsanfällig zugleich
Predigt: Pater Prof. Dr. Ulrich Engel OP
„Gottes Macht und Menschen Macht …heilbringend und missbrauchsanfällig zugleich“, so habe ich die heutige Guardini-Predigt betitelt. „Gottes Macht und Menschen Macht“: das ist ein klassischer Topos, der sich wie ein roter Faden durch die Frömmigkeits- und Kirchengeschichte zieht:
So dichtete beispielsweise der Jesuit Albert Curtz (1600-1671) im 17. Jahrhundert: „Dein Gnad[,] dein Macht und Herrlichkeit[,] o Herr[,] uns alle hocherfreut“1. Nachzulesen in seiner Sammlung „Die Harpffen Davids – Mit Teutschen Saiten bespannet“2.
Ein anderes Beispiel: Graham Greene (1904-1991) beschreibt in einem Roman von 1940 den blutigen Kampf eines jungen revolutionären Offiziers gegen einen der letzten Armen-Priester. Das Buch trägt den Titel „The Power and the Glory“3.
Und natürlich kommt beim Thema Gottes-Macht und Menschen-Macht immer auch der Vatikan ins Spiel, z. B. dort, wo Malachi Martin einen Thriller über die dunklen Machenschaften eines Bankiers und eines Spions in Diensten des Papstes schrieb und die deutsche Übersetzung des Romans unter dem Titel „Die Macht und die Herrlichkeit“4 erschien.
Viele weitere Beispiele ließen sich anführen. Kirchenlieder wären da zu nennen, und natürlich etliche Bibelstellen – so auch die für den heutigen Sonntag vorgesehen Schrifttexte:
In der ersten Lesung aus dem Buch Deuteronomium5 wird demonstrativ Gottes Macht bekannt: „Der HERR ist der Gott im Himmel droben und auf der Erde unten, keiner sonst.“ (Dtn 4,39b)
Psalm 336 dann bezeugt die unumschränkte Macht des göttlichen Logos, des Wortes: „Durch das Wort des HERRN wurden die Himmel geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes. / Denn er sprach und es geschah; er gebot und da stand es.“ (Ps 33,6.9)
Und in der heutigen Perikope aus dem Matthäus-Evangelium7 wird uns eine Selbstaussage des Auferstandenen überliefert, die es in sich hat: „Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf der Erde.“ (Mt 28,18b)
Um Gottes Macht und seine Machterweise geht es heute also. Doch nicht nur darum. In der zweiten Lesung aus dem Römerbrief8 bezeichnet Paulus die Christen als – ich zitiere – „Erben Gottes und Miterben Christi“ (Röm, 8,17). Die Perspektive weitet sich: Nicht länger handelt es sich bloß um Aussagen über die Machtfülle Gottes. Vielmehr kommen wir Christen, kommt die Kirche mit in den Blick. Als Erben haben wir Anteil an Gottes Macht. Das gilt auch für die Kirche. Auch sie hat Macht geerbt. Von Gott selbst.
Bei vielen Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchen schrillen angesichts solcher Aussagen die Alarmglocken. Mit der Aufdeckung des Missbrauchs von Minderjährigen am Canisius-Kolleg hier in Berlin wurde Anfang 2010 ein Skandal öffentlich, der das Vertrauen vieler Menschen in die Kirche und ihre amtlichen Vertreter zutiefst erschüttert hat. Und das, was da an sexuell konnotiertem Machtmissbrauch offenbar wurde, war – das zeigte sich sehr bald bereits in erschreckendem Ausmaß – nur die Spitze des Eisbergs. In ganz Deutschland und weltweit nicht anders sind über Jahrzehnte Tausende minderjährige Schutzbefohlene durch Kleriker missbraucht worden. Doch nicht nur der ungeheure Vertrauensbruch, den die Täter begingen, schockiert. Besonders das Vertuschen und Leugnen der Verbrechen durch vorgesetzte Stellen – Bischöfe und Verantwortungsträger in den kirchlichen Ordinariaten – empört viele Menschen. Zu Recht!
In der sog. MHG-Studie, die Ende 2018 veröffentlicht wurde und die den sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz aufzuarbeiten versucht, machen die beteiligten Wissenschaftler:innen ein – ich zitiere – „hierarchisch-autoritäres System“9 in der Kirche für den Missbrauch verantwortlich. Priester nutzten die ihnen qua Amt und Weihe verliehene Macht aus, um „nicht geweihte Personen […] zu dominieren“10. Sexueller Missbrauch sei, so die MHG-Studie wörtlich, „ein extremer Auswuchs dieser Dominanz.“11
1952 schrieb Romano Guardini: „Die Macht verführt zur Selbstüberhebung und zur Mißachtung des Rechts.“12 Das Buch, in dem sich der Satz findet, heißt schlicht und einfach: „Die Macht“.
Was bedeutet es vor dem skizzierten Hintergrund für uns als Kirche, dass wir nach Auskunft des hl. Paulus Gottes Macht geerbt haben?
Ja, ich glaube, dass die Partizipation an Gottes mächtigem Sein befreiend und zutiefst heilsam sein kann. Das Evangelium von Jesu Wirken in Galiläa bezeugt das.
Ich sehe allerdings auch, dass die Annahme des Erbes höchst gefährliche Folgen haben kann: nämlich dann, wenn Menschen die ererbte Gottes-Macht mit eigener Menschen-Macht verwechseln. Wo bei der Rede von der Macht Gottes und der Macht der Menschen ausschließlich die Ähnlichkeit zwischen beiden betont und die Unähnlichkeit ignoriert wird, da schnappt die Analogie-Falle zu und aus Geist wird schnell Ungeist.
Romano Guardinis Schriften zum Gebet und zur Macht bieten hier wichtige Kriterien zur Unterscheidung von Geist und Ungeist.
Auf den ersten Blick jedoch scheint das Guardini-Zitat, das wir in diesem Semester der Predigtreihe vorangestellt haben, exakt in die geschilderte Analogie-Falle zu tappen: „Hier ist Gott – und hier bin auch ich.“13 Gott und ich scheinen auf derselben Ebene zu stehen.
Entnommen ist unser Motto-Satz Guardinis „Vorschule des Betens“ von 1943. Bei genauerer Lektüre des Textes wird deutlich, dass sich Guardini sehr wohl bewusst war, dass der Satz „Hier ist Gott – und hier bin auch ich“ in schrecklicher Weise missverstanden werden könnte: missverstanden im Sinne menschlicher Anmaßung.
Um der Gefahr zu entgehen, Gott und Mensch auf unzulässige Weise gleichzusetzen, trägt Guardini in seinen Text weitere Differenzierungen ein. Er verweist beispielsweise darauf, „daß in den beiden Sätzen ‚hier ist Gott‘ und ‚hier bin ich‘ das Wort ‚ist‘ verschiedenen Sinn hat.“14 Denn – so lese ich weiter – „Gott ist in einer Weise da, wie sonst nichts und niemand.“15 Das war wohl auch den Nazi-Ideologen ins Stammbuch geschrieben.16
Wie aber kann diese göttliche Weise des Seins theologisch beschrieben werden? Ich lasse Guardini noch einmal zu Wort kommen:
Gott, so erläutert er, „ist aus sich und durch sich selbst; so ist Er allein wesenhaft und eigentlich seiend. Die Schrift drückt es so aus, daß sie sagt, Er sei der ‚Herr‘. Das wird er nicht erst dadurch, daß es Dinge gibt, über die Er Macht hat, sondern Er ist der Herr seiner selbst, herrenhaft von Wesen, herrscherlich seiend. Ich hingegen bin nicht aus mir und durch mich selbst, sondern durch Ihn. Nicht wesenhaft, sondern von seinen Gnaden. Nicht eigentlich, sondern durch Anteil.“17
Dieser Anteil an Gott, durch den wir als Menschen überhaupt sind, entspricht genau dem, was Paulus im Römerbrief als „Erbe“ bezeichnet. In diesem Sinn beschließt Guardini das entsprechende Kapitel seiner „Schule des Betens“ mit einer differenzierenden Erläuterung zu dem Satz „Hier ist Gott – und hier bin auch ich“:
„Zwischen meinem Sein und dem seinigen steht im Grunde kein ‚und‘. (…) Mein Sein steht anders zum Sein Gottes (…): ich bin nur ‚von Ihm‘ und ‚durch Ihn‘.“18
Das aber heißt, dass auch meine Macht und damit alle menschliche Macht in der Kirche – einschließlich der amtlichen – bloß ‚von Gott‘ und ‚durch ihn‘ verliehen ist. Dieses Abhängigkeits- oder Erbverhältnis als Maßstab anzuerkennen, bedarf auf menschlicher Seite einer Haltung der Demut. Dazu schieb Guardini in seinem bereits erwähnten Büchlein „Die Macht“:
„Demut im christlichen Sinn ist eine Tugend der Kraft, nicht der Schwäche. (…) Der die Haltung der Demut zuerst verwirklicht und sie dem Menschen ermöglicht hat, ist Gott selbst“19.
Wie die Liebe in Gott beginnt, so hat auch die Demut ihren Ursprung in Gott. Und wie die menschliche Macht sich Gott verdankt, so verdankt sich auch die Haltung der Demut diesem Gott. Deshalb gilt: Macht wird keineswegs verworfen – weder von Guardini noch von der Bibel. Sie ist eine Wirklichkeit, mit der wir lernen müssen, umzugehen – gerade angesichts des enormen Gefahrenpotentials, das einer Macht innewohnt, die weder Maß noch Demut kennt. Wer in den Bann einer solchen maßlosen Macht gerät, erliegt schnell ihrer Gefahr, die Guardini so beschreibt: „die Maßstäbe zu verlieren; Gewalt in all ihren Formen zu üben.“20
1952 schrieb Guardini: „Die Macht verführt zur Selbstüberhebung und zur Mißachtung des Rechts.“21 Das Buch, in dem sich der Satz findet, heißt schlicht: „Die Macht“. Um ihrer zerstörerischen Gewalt – auch und besonders innerhalb unserer Kirche – entgegenzutreten, bedarf es eines Maßstabs, der – mit Guardini gesprochen – „icht vom Menschen her genommen werden darf, sondern aus dem abzulesen ist, was Gott selbst über sich sagt“2: „Mir ist alle Vollmacht gegeben im Himmel und auf der Erde.“ (Mt 28,18b)
Die altkirchliche Doxologie, die das „Vater Unser“ beschießt, ruft uns den rechten Maßstab in Erinnerung, wenn wir beten: „dein ist die Kraft und die Herrlichkeit.“ Im Englischen wird der Machtaspekt noch deutlicher: „the power and glory are yours“.23
Amen.
Foto & Grafikdesign Anja Matzker
1 Zit. nach: https://www.volksliederarchiv.de/dein-gnad-dein-macht-und-herrlichkeit/ [Aufruf: 19.5.2021].
2 Augsburg 1659.
3 London 1940.
4 Aus dem Amerikanischen von Hans Jürgen Jacobs, Zürich 1989
5 1. Lesung: Dtn 4,32-34.39-40.
6 Psalm: Ps 33,4-5.6 u. 9.18-19.20 u. 22.
7 Evangelium: Mt 28,16-20.
8 2. Lesung: Röm 8,14-17.
9 Harald Dreßing u. a., Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, Mannheim – Heidelberg – Gießen 2018: https://www.: dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf [Aufruf: 22.05.2020]. Das Akronym ‚MH’‘ leitet sich aus den universitären Institutsstandorten – Mannheim, Heidelberg, Gießen – der an der Studie beteiligten Konsortiumsmitglieder ab.
10 Ebd.
11 Ebd.
12 Romano Guardini, Die Macht. Versuch einer Wegweisung, Würzburg 1965, 34.
13 Romano Guardini, Vorschule des Betens, Einsiedeln – Zürich 1948, 36.
14 Ebd., 36.
15 Ebd., 37.
16 Vgl. zum Hintergrund Winfried Hover, Schrecken und Heil. Aspekte politischer Zeiterfahrung bei Romano Guardini, in: Hans Maier (Hrsg.), „Totalitarismus“ und „Politische Religionen“. Konzepte des Diktaturvergleichs (Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft Bd. 16), Paderborn 1996, 171-180.
17 Romano Guardini, Vorschule des Betens, a. a. O., 37.
18 Ebd., 37.
19 Romano Guardini, Die Macht. Versuch einer Wegweisung, Würzburg 1965, 36.
20 Ebd., 40.
21 Ebd., 34.
22 Ebd., 36.
23 Vgl. auch den potestas-Begriff in der lat. Fassung: „Quia tuum est regnum et potestas et Gloria in saecula.“