Theologische Predigt | Erschütterung und Hoffnung
Predigt: Pater P. Klaus Mertes SJ
26. und 27. November 2022
1. Trost mitten in der Katastrophe
Das vorliegende Evangelium [Mt 24,37–44/Mt 24,29–44] ist der zweite Teil einer großen Rede, die Jesus auf dem Tempelberg hält. Nach der Rede folgt eine Beratung im Hohen Rat und der Todesbeschluss gegen Jesus.
Die Rede evoziert dunkle Bilder. Deswegen ist es hilfreich, sich die Redesituation noch einmal zu vergegenwärtigen. Jesus redet im Tempel. Noch ist das alles, was hier angekündigt wird, nicht angetreten. Es ist nur angekündigt. Noch steht das grandiose Gebäude, das Herodes der Große erbauen ließ, noch sind die schön bearbeiteten Steine zu sehen, noch stehen die schön geschmückten Denkmäler, noch läuft der muntere Betrieb, noch steht der Opferkasten und der ganze Verwaltungsapparat.
Vierzig Jahre später wird derselbe Ort zerstört sein. Jerusalem, ein Trümmerhaufen, besiegt durch die römischen Truppen. Der Tempel, das kultische Zentrum, dem Erdboden gleich gemacht. Die Jünger Jesu verunsichert. Leute, die mit verstörenden Lehren und Botschaften auftreten. Wem soll man glauben, wem nicht? Unruhen, beginnende Verfolgung, Gefängnisaufenthalte, erste Martyrien. Engste Freunde und Familienmitglieder denunzieren die Gemeinde bei den Behörden – vielleicht um ihre eigene Haut zu retten nach dem Motto: „Mit denen habe ich nichts zu tun“; vielleicht deswegen, weil sie die Mitglieder der jungen Gemeinde für schuldig halten an der Katastrophe; was auch immer.
Für uns heute mag die Rede Jesu erschreckend klingen, bedrohlich. Doch 40 Jahre später, mit den Ohren der Gemeinde gehört, klingt die Rede Jesu tröstlich. Sie tut ihnen gut. Und das soll sie auch. Sie nimmt ihnen Druck von der Seele, richtet sie auf. Sie schenkt ihnen Zuversicht, dass das alles jetzt eben gerade nicht das Ende ist. Denn am Ende wird der Menschensohn kommen. Der, der dies alles vor 40 Jahren kommen sah, sah auch schon damals, dass die Katastrophe nicht das letzte Wort Gottes über seine Schöpfung sein wird. Die Ankündigung der Katastrophe war verlässlich. Sie hat sich bewahrheitet. Deswegen ist es auch seine Ankündigung der Rettung verlässlich. Der Menschensohn wird kommen. „Richtet euch auf und erhebt euer Haupt, denn es naht eure Erlösung.“
2. Trost durch Gericht
Der Trost erfolgt im Gericht. Es mag überraschen, dass ausgerechnet die Aussicht auf das Gericht Trost auslöst, Vorfreude, Hoffnung auf Rettung.
Es gibt in der Schrift zwei unterschiedliche Gerichtsvorstellungen. Die eine ist die des Strafgerichtes. Ich trete allein, in personaler Letzt-Verantwortung vor das Gericht und hoffe auf Gnade statt Recht, so wie der Sünder in der Synagoge: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ (Lk 18,13) Doch der Richter ist nicht nur gerecht. Er beurteilt zwar meine Taten und Unterlassungen nach Recht und Gesetz, aber er sieht meine Reue, meine niedergeschlagenen Augen, den glimmenden Docht der Hoffnung in mir auf sein Erbarmen. So trete ich vor ihn hin.
Ganz anders die Gerichtsvorstellung, wenn ich vor das Gericht trete in der Hoffnung, dass ich Recht bekommen gegen diejenigen, die mir Unrecht tun, mich bedrängen, unterdrücken, verfolgen und mir Gewalt antun: „Verschaffe mir Rechte gegen meinen Feind.“ Ich stehe als bedrückte, verfolgte, bedrohte Person oder Gemeinde vor Gott. Ich bringe vor Gott die Klage gegen meine Peiniger, die meinen, im Recht zu sein, wenn sie mich verfolgen, beschimpfen und ausgrenzen. Ich stehe als Stephanus neben Saulus vor Gericht und klage diesen Fanatiker an, der auch noch meint, Gottgefälliges zu tun, wenn er mich und die Meinen steinigt. Meine Hoffnung ist, dass ich im Gericht Recht bekomme gegen meinen Feind. Um es mit den den Bilder des Magnifikats zu sagen: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“ Das ist meine Hoffnung
In der apokalyptischen Rede ist dieser zweite Typ des Gerichtes angesprochen. Die Rede tröstet, weil sie den Bedrängten und Verfolgten Gerechtigkeit verheißt. Man muss sich diese Hoffnung nicht lautstark oder selbstgewiss vorstellen. Es reicht, wenn ganz tief und still im Herzen flackert, mitten in der Bedrängnis. Das Unrecht, das mir angetan wird, wird ans Licht kommen. Meine Klage wird gehört werden. Alle werden es sehen.
3. Wann kommt der Tag?
„Wann wird das geschehen?“ (V3) Die Frage kann in zweierlei Stimmungslagen gestellt werden: „Wann wird das geschehen? Hoffentlich nicht zu bald.“ Oder: „Wann wird das geschehen? Ich kann es kaum noch erwarten!“ Je nachdem klingt die Frage anders. Im ersten Fall überwiegt die Angst vor dem Tag, an dem das geschieht. „Ich möchte, dass es noch ein bisschen dauert, damit ich das Leben noch ein bisschen genießen kann.“ Vielleicht auch: „Ich möchte es genau wissen, damit ich mich drauf einstellen und entsprechend planen kann. Ich möchte nicht kalt erwischt werden.“ Anders ist die Stimmung bei denen, die den Tag herbeisehnen. Das sind die, die ohnehin nichts mehr zu verlieren haben. Der Tag kann ihnen nicht früh genug kommen. Jeder Tag, an dem es länger dauert, ist quälend lang.
Die beiden Stimmungslagen sind Einfallstore für das, was biblisch „Versuchung“ genannt wird. Die Stimmungen können sich auch vermischen und zu Überdrehungen aller Art führen. Sie sind Anknüpfungspunkte für vielerlei falsche Propheten. Die sind daran zu erkennen, dass sie alles genau wissen. Sie sind professionelle Rechner und Berechner; Wissenschaftler mit überzogenem Selbstverständnis, oder auch bloß Interessensvertreter in eigener Sache. Sie verkünden falsche Sicherheiten, ein falsches „bald“ oder ein falsches „noch lange nicht“. Falsche Propheten eben. Man kann sich mit ihnen in der falschen Fragestellung verlieren. Hingegen gilt: „Jenen Tag und jene Stunde kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn …“ (V36). Das einzige, was wir wissen, ist dies: Wir sollen einfach die Werke der Barmherzigkeit tun, ganz schlicht und einfach, mit der großen, freudigen Hoffnung im Herzen.
4. Last Generation
Endzeitgefühl gehört zu Wendezeiten. Der prophetische Ton in Politik und Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren verstärkt. „Last Generation“ ist ein Stichwort, das in diesen Tagen mit Ankleben auf Straßen und Blockaden verbunden wird. Wie immer man dazu steht: Der Name „Last Generation“ gibt ein Endzeitgefühl wieder, das, wie ich meine, weit über die Aktiven hinaus geht, die sich unter diesem Namen finden. Eine kosmische Katastrophe naht. Die „Geier“ sammeln sich schon um das Aas, denn das Aas liegt ja schon irgendwie da: Dürren, Kriege, Hungersnöte, Migrationsströme, soziale Zerwürfnisse. Die Katastrophe ist nicht nur zukünftig, sondern sie ist schon da. Angekündigt ist sie auch, zum Beispiel in der päpstlichen Enzyklika Laudato Si. Ich empfehle das erste Kapitel unter dem Titel „Was unserem Haus widerfährt“.
Das Evangelium empfiehlt, wie gesagt, ganz schlicht die Werke der Barmherzigkeit zu tun, auch dann, wenn sie winzig klein scheinen gegenüber den riesigen Herausforderungen. Die riesige Größe der Herausforderung kann entmutigen, und die Entmutigung kann „irreführen“: Zum Beispiel so: „Solange es mir noch gut geht, ist es halb so schlimm. Nach mir die Sintflut.“ Das ist nicht bloß Egoismus. Es ist die Antwort der Verzweiflung. Egoismus ist ohnehin meist bloß die Rückseite der Resignation. Eine Alternative ist: „Ich beschränke mich auf mich selbst. Ich muss bei mir selbst anfangen, bei meinen Erwartungen an das gute Leben, bei meinem eigenen Konsumverhalten“. Dazu steht auch einiges bei Papst Franziskus im Kapitel unter dem Titel „ökologische Umkehr“ (LS 216ff) zu lesen. Das ist schon besser, aber es reicht auch nicht. Der Papst fügt hinzu: „Zur Lösung einer so komplexen Situation wie der, mit der sich die Welt heute auseinandersetzen muss, (ist) es nicht genug, dass der Einzelne sich bessert … Auf soziale Probleme muss mit Netzen der Gemeinschaft reagiert werden, nicht bloß mit der bloßen Summe individueller positiver Beiträge.“ (LS 219) Kurz: Politik, Politisierung. Es wird unterschiedliche Konzepte, politischen Streit, Unsicherheit, Verwirrung geben. Der Ruf nach politischer Führung wird lauter werden. Da melden sich dann auch diejenigen, vor denen Jesus warnt: „Lauft ihnen nicht hinterher.“ (V8) Das sind meist die mit den ganz einfachen, glatten Lösungen, meist mit autoritären Gestus präsenmtiert. Aber das schließt nicht aus, dass man sich selbst auch politisch positioniert, sich politischen Bewegungen anschließt oder selbst politisch voranschreitet. Unpolitisch bleiben ist auch keine Lösung.
5. Golgota
Jesus hält die apokalyptische Rede kurz vor seiner „Erhöhung“ am Kreuz auf Golgota. Das Kreuz ist ein Scheitern. Doch vierzig Jahre später, in der Rückschau, auf den Trümmern des Tempelbergs, zeigt sich deutlicher, dass auch dieses Scheitern etwas zu sagen hat. Das eine ist: Er hat sich die Warnung etwas hat kosten lassen, Anfeindung, zum Schluss sogar das Leben. Denn wer wollte sich schon solche Warnungen anhören und sich von ihnen stören lassen? „Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt. Aber ihr habt nicht gewollt.“ (Mt 23,37) Da beseitigt man den Störer lieber.
Aber das Kreuz hat vierzig Jahre später noch mehr zu sagen. Jesus hat sich auch seine Verheißung etwas kosten lassen. Er hat nichts zurückgenommen von seiner Hoffnung, bis zum Schluss, auch nach der Rede auf dem Tempelberg: „Wenn ihr standhaft bleibt, werdet ihr das Leben gewinnen.“ Wenn er damals mit seiner Warnung recht gehabt hat, so verdient nun auch seine Verheißung Vertrauen. Also an alle heute: „Richtet euch auf und erhebt euer Haupt, denn es naht eure Erlösung.“
Foto & Grafikdesign Anja Matzker