Theologische Predigt | Durch die Wahrheit helfen

26. Oktober 2019 | Theologische Predigtreihe „Wo ist Christus?“

Durch die Wahrheit helfen

Predigt: Marc Grießer

„Dieser Laden handelt mit Wahrheit“, sagte der Journalist Juan Moreno vor kurzem über ein großes deutsches Nachrichtenmagazin. Er hatte vor knapp einem Jahr eine Serie von Fälschungen in eben diesem Magazin aufgedeckt, ein Skandal, der die Glaubwürdigkeit der Medien weithin erschüttert hat. In den Augen zahlreicher Menschen ist solche Beschädigung des „Produktes Wahrheit“ offensichtlich eine Bestätigung der weithin verbreiteten skeptischen Haltung. Man kann also niemandem mehr trauen, so folgern sie. Dieser Skeptizismus, der zu allem Abstand hält, vieles auch spöttisch belächelt, ist längst für viele – bewusst oder unbewusst – zur Lebenshaltung geworden. Wahrheit ist in einem solchen Umfeld ein schwieriger Begriff geworden, es scheint, als habe jeder seine eigenen Fakten, eben „alternative Fakten“. Was hält uns dann aber noch zusammen, was verbindet uns und ist deswegen verbindlich? Romano Guardini sagte einmal: „So meine ich es mit meiner seelsorglichen Arbeit: helfen durch die Wahrheit.“1 Dieses Wort ist in St. Ludwig in München angebracht, wo er über viele Jahre hindurch das Wort Gottes ausgelegt hat. Es umschreibt m. E. nicht nur einen Aspekt seines Wirkens, sondern sein Wirken, ja seine Existenz insgesamt. Ist das aber möglich? Helfen durch die Wahrheit?

Die skeptische Lebenshaltung führt – so meine Beobachtung – zu einer Art Zweigleisigkeit. Im Grundsätzlichen führt man gern Debatten und hält sich alles offen, bleibt auf Abstand zu allem, doch nicht zu entscheiden ist auch eine Entscheidung. Das Leben nötigt uns Entscheidungen ab, die man dann situationsabhängig, pragmatisch trifft, nach irgendwelchen Maßstäben, die man vielleicht vorher auf der grundsätzlichen, theoretischen Ebene noch verspottet hat – oder man handelt schlicht und ergreifend nach dem eigenen Vorteil. Ich gebe zu, das klingt ein wenig holzschnittartig vereinfachend, aber um etwas sichtbar zu machen, muss man gelegentlich vergrößern und verallgemeinern. Die skeptische Lebenshaltung führt letztlich in einen Widerspruch. Im Grundsätzlichen hält man sich alles offen, bleibt fragend und prüfend zu allem auf Abstand, im Leben muss man dann doch irgendwie, nach irgendwelchen Maßstäben entscheiden – und sei es der eigene Vorteil. Der Skeptiker meint genauer zu sehen, doch am Ende widerspricht er sich nur. Der britische Schriftsteller C.S. Lewis bringt es so auf den Punkt: „Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr.“2

Der Skeptizismus führt also in eine Sackgasse, man kann mit ihm in Debatten glänzen – so man die rhetorische Begabung dazu hat –, man kann ihn aber nicht leben. Möglicherweise gibt es doch die Wahrheit, die hilft? Jesus scheint davon überzeugt zu sein. Der Zöllner, der die – offenbar nicht ruhmreiche – Wahrheit seines Lebens anerkennt, kehrt als Gerechter zurück. Der Pharisäer, der prahlen muss, nicht. Die Wahrheit hilft, indem sie uns einen Teil der Lasten abnimmt und indem sie ermutigt und inspiriert. Besteht ein Teil der Lasten, unter denen wir stöhnen, nicht immer auch darin, was wir uns einbilden? Ein Deutschlehrer, der auch Psychologie unterrichtete, riet uns Schülern vor dem Abitur als Maßnahme gegen die Angst, sich vorzustellen, was schlimmstenfalls passieren könnte, wenn wir durchfielen. Die Eltern setzten uns auf die Straße, die Nachbarn spuckten uns an. Doch spätestens da musste man grinsen; so schlimm wird es nicht werden. Die Wahrheit ist oft nicht so schlimm wie unsere Einbildung. Und selbst wenn die Wahrheit bitter und gelegentlich grausam ist, so scheint doch ein Weg auf, den ich gehen kann – im Alptraum der eigenen Phantasien gelingt das nicht. Die Wahrheit hilft, indem sie von eingebildeten Lasten befreit und indem sie ermutigt und inspiriert. Die Wahrheit enthüllt den gangbaren Weg – so schwer und schmerzhaft er auch gelegentlich sein mag. In diesem Sinne bewundere ich die Hospize. Sie versuchen, jedem Sterbenden Mut zu machen, die Wahrheit seines Sterbens anzunehmen und ihm zu zeigen, dass er noch einen Weg vor sich hat, den er gestalten kann – wie lang oder kurz er sein mag. Wo wir der Wahrheit trauen, öffnet sich ein Weg. Dieses Vertrauen in die Wahrheit lehrt uns auch der Zöllner. Er redet nicht drumherum, sondern sagt, wie es ist: „Gott, sei mir Sünder gnädig.“ Warum fällt es aber so schwer, der Wahrheit zu vertrauen? Eben weil sie manchmal bitter ist, Gewohntes erschüttert, vielleicht gar zerstört. Doch das tut sie – genau besehen – nicht, sie zeigt nur, was ohnehin geschehen ist, was ich nur nicht sehen will. Vertrauenswürdigkeit hängt aber nicht davon ab, dass ich nur zu hören bekomme, was ich gern hören will. Vertrauenswürdig ist ein anderer für mich, wenn er mich nicht im Stich lässt – auch wenn es schwer wird. So ist die Wahrheit, sie zeigt, was ist. Wer ihr – auch in schweren Stunden – traut, sieht den Weg, den er gehen kann. Liebe und Wahrheit sind in gewissem Sinne zwei Kehrseiten derselben Medaille. Wahrheit heißt Ja sagen zu dem, was i s t, Liebe heißt, J a sagen zu dem, was ist, nur die Betonung, der Schwerpunkt liegt anders.

Die Wahrheit ist ein demütiger und geduldiger Lehrer. Sie drängt sich nicht auf, stellt sich nicht in den Mittelpunkt, aber sie kann auch nicht einfach besessen werden. Sie ist wie das Licht, in dem wir alles sehen und das wir doch selbst so nicht sehen können. Die Wahrheit ist nicht einfach fassbar, kann nicht im schlichten Merksatz zugänglich gemacht werden. „Die erkannte Wahrheit ist wie eine Kugel; je größer sie wird, desto größer wird ihre Angrenzung an das, was außerhalb ihrer liegt“3, sagt Romano Guardini. Weckt das nicht eine Erinnerung? Die Erinnerung an den, der seinen Zuhörern die Haltung des Zöllners empfahl. Jesus Christus ist der demütige Lehrer schlechthin, er ist er, der uns ganz nah ist und den wir doch nie fassen können. Jesus Christus ist die Wahrheit. Darum lässt sich auch der Glaube nicht verkünden, indem ich gewissermaßen von oben eine Wahrheit verlauten lasse, als sei diese ein Gesetzbuch. Die Wahrheit ist demütig und geduldig und nur in dieser Haltung lässt sie sich erkennen und bezeugen. Gerade in unseren stürmischen Zeiten sollten wir uns daran erinnern.

So begegnet uns in diesem Gedankengang auch Guardinis Methode: die christliche Weltanschauungslehre. Der Glaube ist gerade keine Schablone, die der Welt aufgepresst wird. Auch der Glaubende sieht zunächst schlicht, was ist. Guardini zeigt in diesem Aufschlüsseln dessen, was ist, seine große Meisterschaft und begründet damit auch die Anschlussfähigkeit des christlichen Glaubens. Er sieht das, was auch einer sehen kann, der nicht glaubt. Dieses Sehen und Verstehen führt in eine Offenheit und Bereitschaft, die menschliches Denken nicht mehr weiterführen kann. Es ist der christliche Glaube, der an diesem Punkt neue Wege erschließt. Im Bild des Weges gesagt: die neue Richtung kann nicht einfach aus der alten erschlossen werden, und doch setzt der neue Weg da an, wo der alte zu Ende ging. Der christliche Glaube entpuppt sich als die Deutung, die zu tragen vermag.

Helfen durch die Wahrheit – so verstand Guardini seine Arbeit, ein Anstoß, der gerade in unserer Zeit Bedeutung hat. Das Vertrauen in Kirchen, Parteien, Medien und andere Institutionen schwindet, der Skeptizismus wird zur verbreiteten Lebenshaltung. Mit diesem kann man zwar in Debatten glänzen – so man rhetorisch begabt ist –, aber man kann ihn nicht leben. Das Leben nötigt uns Entscheidungen ab. Die Wahrheit hilft, indem sie eingebildete Lasten abnimmt, indem sie ermutigt und inspiriert. Wo der Wahrheit Vertrauen entgegengebracht wird, öffnet sich ein Weg. Die Wahrheit ist demütig und geduldig und bleibt doch im Letzten unfassbar. Die Wahrheit ist Christus.


1 Romano Guardini, Stationen und Rückblicke/Berichte über mein Leben, Mainz 1995, 226.
2 C.S. Lewis, Die Abschaffung des Menschen, Einsiedeln 82015, 82.
3 Romano Guardini, Die Existenz des Christen, München u.a. 1976, 181.

Foto & Grafikdesign Anja Matzker

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