30. November 2019 | Theologische Predigtreihe „Wo ist Christus?“
Die Welt ist noch nicht fertig
Predigt: Gabriel von Wendt LC
1. Gottes Schöpfung und Vollendung der Welt
„Das Ende der Welt“. Dies ist ein so großer Ausdruck, so voller Pathos, so apokalyptisch, dass er schon unwirklich erscheint. Und doch ist dies der große Paukenschlag der heutigen Frohbotschaft.
Ähnlich wie der Glaube an den Anfang der Welt ist auch der Glaube an ihr Ende wesentlich. Im Glaubensbekenntnis benennen wir den Anfang als Gottes Schöpfung („Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt.“) und vom Ende heißt es: „Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein.“
Dieser Glaubenssatz vom Weltende, vom Gericht, von der Wiederkehr Christi am Ende der Zeiten gehört zu jenen Dingen, die zu hundert Prozent von der Offenbarung abhängen. Wir haben von uns aus einfach keine Ahnung was „am Ende“ passieren wird; von einigen anderen Glaubenssätzen ließe sich behaupten, dass sie auch logisch zugänglich sind (Existenz Gottes, Güte Gottes usw.); andere Glaubenssätze beruhen auf konkreter Erfahrung und Überlieferung von Geschehnissen (Auferstehung, Jungfrauengeburt). Vom Ende der Welt aber wissen wir eigentlich nichts; das Ende der Welt können wir nicht schlussfolgern; das Ende der Welt kennen wir nur aus der Offenbarung; so zum Beispiel aus dem heutigen Evangelium.
So können wir Glauben hier ganz frisch erleben: Da kommt etwas von der Offenbarung her – gewissermaßen hier vom Ambo aus – auf uns zu, was wir mit keiner anderen Quelle abgleichen können. Richten wir die Lupe auf unser Inneres und beobachten, wie wir auf diese Botschaft reagieren. Das bringt den Glaubensakt ganz scharf vor die Linse.
Ja, es erlaubt uns, das zu tun, was Romano Guardini so gern getan hat: Zu fragen, welchen Effekt ein vom Glauben kommender Faktor für unser Leben hat. Wie verändert sich unsere Existenz und unser Blick auf die Welt im Licht des Glaubens? In unserem Fall: Was macht es mit unserem Leben, an ein Ende der Welt zu glauben? Wie verändert es mich, wenn ich daran glaube, dass Christus am Ende der Zeiten wiederkehrt?
Wir sagten, dieser Glaube sei wesentlich. Wesentlich? Also für uns hier und heute entscheidend? Warum? Ich meine, deshalb, weil dieser Glaube unserem Leben einen eigenen Sinn gibt.
Zunächst liegt das daran, dass der Glaube an einen Beginn der Zeit (Schöpfung) und an ein Ende der Zeit (Apokalypse) unsere Vorstellung von Zeit überhaupt verändert. Denn diese beiden Punkte spannen einen Raum zwischen Anfang und Ende auf. So machen sie aus Zeit eine Geschichte. Ja, wir leben nicht einfach nur in einem Durchlauf; in einem ewigen Zyklus von sich zusammensetzenden und lösenden Elementen; sondern in einer Geschichte.
- Geschichte bedeutet, dass es Protagonisten gibt, Akteure; der Blick auf den Anfang und auf das Ende, welche die Offenbarung uns vorlegen, erinnert uns daran, wer die Protagonisten der Weltgeschichte sind. Es sind nicht die Sterne, nicht die Tiere, nicht die Luft oder das Wasser, nicht das Klima, sondern der Mensch. Der Mensch und Gott.
- Geschichte bedeutet ferner, dass es eine Handlung gibt, also, dass das, was geschieht, Sinn hat; es ist nichts egal, alles bestimmt mit, welche Wendung das Ganze nimmt.
- Und Geschichte bedeutet natürlich, dass es einen Autor gibt; jemanden, der sich alles ausgedacht hat; jemanden, der die Charaktere erschaffen hat und sie nun auf der Bühne der Welt auftreten lässt.
Ja, dieser Autor ist Gott. Doch Gott hat diese Geschichte nicht einfach fertig ausgespuckt. Guardini schreibt: „Als Gott die Welt schuf, hat er sie nicht fertig gemacht, wie ein Mensch ein Gerät baut. Das ist dann, wie es ist, und kann nur noch in Ordnung gehalten werden. Gott hat gewollt, daß die Welt sich in langen, unmeßbar langen Zeiträumen vollenden sollte. Gottes Geduld aber ist die Kraft, mit der er diese für uns unerfühlbar weiten Zeiten durchgreift und sein Werk durch sie hin zur Vollendung führt.“1
Eine erste Erkenntnis, die uns aus der Offenbarung über das Ende der Zeiten entgegentritt, ist also: Dass die Welt Gott gehört; dass er sie geschaffen hat und einem Ende zuführt. Wir sind Teil dieser Geschichte.
Die Geschichte läuft noch. Die Welt ist noch nicht fertig. Gott lässt die Welt sich vollenden.
2. Menschliches Mitschaffen an der Welt
Wenn das so ist, dann gibt das unserem Leben einen besonderen Sinn. Und zwar den, dass jedes menschliche Leben die Welt mitschafft. Wenn die Welt eben noch nicht fertig ist; wenn die Geschichte noch offen ist, dann steht noch alles auf dem Spiel. Und das geht uns direkt an, denn die große Geschichte der Welt besteht ja aus unzähligen kleinen Geschichten.
- Da sind die beiden Frauen, die an derselben Mühle mahlen. Ihre Hände gezeichnet von der täglichen Arbeit; ihre Gesichtszüge erzählen von ihrem Leben: den Freuden, den Sorgen, den Entscheidungen, den Sehnsüchten… Geschichten eben.
- Da sind die beiden Feldarbeiter: der eine vielleicht plauderhaft, der andere schweigsam; der eine dick, der andere dürr; der eine aufgeschlossen und gesellig, der andere ein Griesgram, vor dem die Menschen scheu zurückweichen… Geschichten.
- Da sind die unzähligen Geschichten von uns allen hier in dieser Versammlung. Biographien, Tragödien, Komödien…
Durch jede dieser Geschichten, durch jedes unserer Leben wird die Welt ein wenig mehr. Durch alles, was wir tun, wird die Welt: Nicht nur durch die weitreichenden Entscheidungen eines Politikers; sondern auch durch unser tägliches Zutun; auch durch unsere Worte, durch unsere Absichten und unser Handwerk. Friedrich Schiller hat darauf hingewiesen in seinem „Lied von der Glocke“ (1800), in dem er darstellt, wie sich Mensch und Werk und Welt gegenseitig bedingen. Sein Appell richtet sich an den Menschen, an das Subjekt, der das Werk vollbringt:
„So laßt uns jetzt mit Fleiß betrachten,
Was durch die schwache Kraft entspringt,
Den schlechten Mann muß man verachten,
Der nie bedacht, was er vollbringt.
Das ist’s ja, was den Menschen zieret,
Und dazu ward ihm der Verstand,
Daß er im innern Herzen spüret,
Was er erschafft mit seiner Hand.“
Der Mensch „erschafft mit seiner Hand.“ Der Sinn, der aus der Offenbarung her auf uns zutritt, ist folgender: DEIN LEBEN IST EIN MITSCHAFFEN AN DER WELT. Dein Leben ist kein bloßer Ablauf oder Durchlauf. Dein Leben ist ein Teil dessen, was die große Leinwand der Geschichte füllt; jene Leinwand, die aufgespannt ist zwischen dem Anfang und dem Ende. Das ist eine große Würde und Verantwortung: An der Geschichte mitzuschreiben; an der Welt mitzuschaffen. „Was erschaffst du denn da in deinem Leben?“ können wir fragen; sollten wir fragen. Denn Schiller mahnt: „Daß er im innern Herzen spüret, was er erschafft mit seiner Hand.“
Laut Guardini schafft der Mensch an der Welt auf folgende Weisen mit:
1. Zum einen, durch das sittliche Tun. Indem der Mensch sittlich handelt, also, sich bemüht, das moralisch Gute zu tun, wirkt er das Gute in die Welt hinein, wie Sauerteig in die Masse. „Immerfort ist die Welt unfertig. Immerfort kommt sie uns entgegen in der Form der Situation, daß wir, im sittlichen Tun, sie fertig machen. Fertig machen dadurch, daß wir das Gute in sie hineinformen.“2
2. Einen weiteren Bereich, wo der Mensch an der Welt mitschafft, ist die Kultur. Guardini schreibt: „Diese Welt ist nicht fertig da, sondern wird immerfort und immer neu aus der Begegnung jedes Menschen mit dem, was da ist.“3
3. Die vielleicht entscheidendste Stelle, an der wir an der Welt mitwirken, ist unsere eigene Existenz. In jeder guten Geschichte bewegt uns nicht nur die Frage nach dem Ausgang des großen Handlungsstranges, sondern uns interessiert, wie sich die Figuren der Geschichte selbst entwickeln, was aus ihnen wird.
So bekommt das Leben des Einzelnen einen Sinn für die Geschichte der Welt. Niemand ist unwichtig. Nichts ist trivial. Der Glaube an ein großes, gemeinsames Ende der Geschichte, schweißt unsere Biographien fest zusammen. Was macht es mit unserem Leben, wenn das Weltende als Glaubenssatz angenommen wird? Es bedeutet, dass der Werde-Prozess der Welt und unserer persönlichen Existenz nicht einfach richtungslos in die eine oder die andere Richtung abdriften können. Unser moralisches Tun, unsere Prägung des kulturellen Umfelds unserer Gesellschaft, und unsere persönliche Existenz sind ungemein wertvoll. Denn sie tragen bei zur Vollendung der Welt und ihrer Geschichte.
Eine zweite Erkenntnis, die uns aus der Offenbarung über das Ende der Zeiten entgegentritt, ist also: Dass unser Leben unheimlich wertvoll ist; dass die freie Gestaltung unserer Welt von größter Relevanz ist, weil sie dem geplanten Ende zuträglich ist – und daher in die Ewigkeit „mitgenommen“ wird – oder nicht.
3. Christliches Mitschaffen an der Welt
Uns ist aber nicht nur offenbart, dass es ein Ende geben wird, sondern auch, wie es sein wird. „Der Menschensohn kommt“, und er kommt „zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet“ (vgl. Mt 24,44). „Wie es in den Tagen des Noach war, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein“ (Mt 24, 37). Und dieses plötzliche Auftreten wird einhergehen mit einem „mitgenommen“ und einem „zurückgelassen“ werden.
Die Offenbarung will also nicht einfach zu willkürlichem Mitschaffen an der Welt ermutigen. Das heutige Evangelium beinhaltet eine Wertung. Wie unsere Geschichte sich entwickelt, ist nicht egal, sondern entscheidet über unser Ende. Unser Leben strömt auf ein Ziel zu, an dem es gerichtet und gemessen wird.
Wonach wird gemessen? Nach dem, was wir Christi Heil nennen. Was sich von Ihm heilen ließ, was Heil empfing, was Heil angenommen hat – das wird „mitgenommen“. Geschichte ist Heilsgeschichte. Christus ist dieses Heil. Christus ist der Maßstab. Christus ist der Richter.
Jetzt steht die heutige Botschaft ganz scharf vor uns. Christus selbst steht vor uns. Auf ihn läuft der gesamte Strom der Geschichte unweigerlich zu. Im Advent geht es uns ja gerade darum, das Bewusstsein zu erneuern, dass an diesem Ende Christus steht. Und dass er als Richter da steht, bedeutet, dass unser Werden – persönlich und als Welt – nicht willkürlich ist.
Dieser Glaube wirft Licht auf unser Leben heute. „Kommt, wir wollen unsere Wege gehen im Licht des Herrn“ (Jes 2,5). Der Gläubige muss sich unmittelbar fragen, wie seine Geschichte – sein Mitschaffen an der Welt durch sittliches Tun, Prägung der Kultur und existentieller Verwirklichung – wie dies alles sein muss, um am Ende Christi Maß zu entsprechen. Wie wird aus unserem menschlichen Mitschaffen an der Welt ein christliches Mitschaffen nach der Maßgabe Christi? Was macht menschliche Existenz zu christlicher Existenz?
Das ist die Frage nach der Existenz des Christen, und ihr geht Guardini in seinem gleichnamigen Werk nach. Dort schreibt er: „Der Maßstab aber, nach welchem der Richter richtet, wird die Gesinnung Gottes sein, wie sie in Christus offenbar geworden ist, die Liebe.“4
Es mag banal klingen, alles auf „die Liebe“ herunterzubrechen. Aber hierin besteht Christi Offenbarung. Und seine Liebe ist nicht substanzlos, sondern ist gewappnet mit dem Gewicht seines Ganzopfers. Christus, der Menschensohn, steht am Ende der Zeiten. Die Offenbarung projiziert heute in den liturgischen Texten eine Vorschau dieses zukünftigen Ereignisses auf die Leinwand der Geschichte. Christus steht vor uns als der Gekreuzigte und Auferstandene mit dem Anspruch, die Menschheit in sich hineingenommen und erlöst zu haben. Richter und Heiland in einem. Wie reagieren wir auf diesen Anspruch? Eine Frau an der Mühle reagiert so, die andere so… Schenken wir ihm Glauben?
Wenn ja, dann hat auch der Rest dieser Feier hier Sinn. Denn wir gehen nun dazu über, von Gott das zu empfangen, worum wir ihn im Tagesgebet baten. Dort hieß es:
„Herr, unser Gott,
alles steht in deiner Macht;
du schenkst das Wollen und das Vollbringen.
Hilf uns, dass wir auf dem Weg der Gerechtigkeit
Christus entgegengehen
und uns durch Taten der Liebe
auf seine Ankunft vorbereiten,
damit wir den Platz zu seiner Rechten erhalten,
wenn er wiederkommt in Herrlichkeit.“
Eine letzte Erkenntnis, die uns aus der Offenbarung über das Ende der Zeiten entgegentritt, ist also: Dass Gott durch unser Leben die Welt von innen her fertigstellen will; dass die Existenz des Christen bedeutet, dass Gott durch ihn die Welt heiligt.
Derselbe Gott, der uns das Ende offenbart hat; der die Welt nicht „fertig machen“ wollte, sondern unser Zutun wünscht; derselbe Gott, der seinen Sohn als Maßstab der Liebe gesandt hat; dieser Gott will hier und jetzt in uns das Wollen und Vollbringen dieser Liebe entzünden. Dieser Vorgang, seinem Wesen nach ein unsichtbarer Prozess der Gnade, bekommt in der Kommunion sichtbare Nahrung. Durch diesen Gnadenfluss kann aus unserem rein menschlichen Mitschaffen an der Welt, christliches Mitschaffen werden: eine Existenz in Christus. Amen.
1 R. Guardini, Vom lebendigen Gott, 46.
2 R. Guardini, Das Gute, das Gewissen, die Sammlung, 26.
3 R. Guardini, Die Existenz des Christen, 13.
4 R. Guardini, Die Existenz des Christen, 511.
Foto & Grafikdesign Anja Matzker