Projekt „Stadt und Religion“
Rückblick | Exkursionsreihe „Ortsbekenntnis – Bekenntnisorte“ 3/6
In der dritten Staffel unserer Exkursionsreihe „Ortsbekenntnis – Bekenntnisorte“ besuchten wir das Zentrum am Hauptbahnhof der Berliner Stadtmission, das Exerzitienzentrum der göttlichen Barmherzigkeit St. Clemens und die Wilmersdorfer Lahore-Ahmadiyya-Moschee. Auch in dieser Staffel entdeckten wir dank unserer Referenten viele neue Aspekte religiöser Vielfalt in Berlin.
11. Mai 2019 | „Suchet der Stadt Bestes“ (Jer 29,7). Die Berliner Stadtmission
Der Auftakt des dritten Teils der Exkursionsreihe fand im Zentrum am Hauptbahnhof der Berliner Stadtmission statt, die nicht im eigentlichen Sinne eine Religionsgemeinschaft, sondern vielmehr eine soziale Institution der Evangelischen Kirche ist. 1877 von dem inzwischen aufgrund nationalistisch-antisemitischer Tendenzen umstrittenen evangelischen Theologen Adolf Stoecker gegründet, ist sie heute freies Werk der Evangelischen Kirche. Als eine von vielen Stadtmissionen in Deutschland verfolgte auch die Berliner Institution das Ziel der „inneren Mission“, d. h. sie übernahm soziale Aufgaben, auch in der Hoffnung, eine sich zunehmend vom Christentum entfremdende Bevölkerung wieder an kirchliche Inhalte heranzuführen. Im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden fortschreitenden Urbanisierung im 19. Jahrhundert entstanden neue Erfordernisse für soziale Einrichtungen. Die Stadtmission betreute in dieser Zeit Arbeiter und Angestellte ebenso wie Obdachlose und Prostituierte. Dieser Aufgabe kommt sie noch heute mit großem Erfolg nach. Auf dem Gelände in der Lehrter Straße am Hauptbahnhof zwischen der Justizvollzugsanstalt Moabit, dem Kanzleramt und entstehenden Luxuswohnungen befinden sich Einrichtungen für Obdachlose und (Sucht-)Kranke, für Flüchtlinge, Ex-Sträflinge und Menschen, die von Altersarmut betroffen sind, aber auch ein Wohnheim für Studierende, ein Buchladen, das Jugendgästehaus, Tagungsräume und eine Kapelle mit eigener Gemeinde. Von dieser „Stadt in der Stadt“ berichtete der Direktor und Theologische Vorstand der Berliner Stadtmission Pfarrer Joachim Lenz. 1.800 Ehrenamtliche sind neben den Hauptamtlichen in ganz Berlin beschäftigt. Das Zentrum am Hauptbahnhof ist zwar das größte Gelände der Institution, es gibt aber über 70 verschiedene Standorte. Pfarrer Lenz betonte, das Ziel sei es, „Welten zusammenzubringen“.
In diesem Sinne erläuterte auch der Architekt Konrad Opitz (Sauerbruch Hutton) die geplanten Umbauarbeiten auf dem Gelände. Die Arbeiten werden in mehreren Etappen durchgeführt. Das Herzstück der ersten Bauphase ist ein Nachbarschaftszentrum, in dem sowohl soziale Einrichtungen als auch Büroräumlichkeiten, Wohnungen und ein Yoga-Studio Platz finden sollen.
18. Mai 2019 | Ewige Anbetung am Potsdamer Platz. St. Clemens – Exerzitienzentrum der göttlichen Barmherzigkeit
Die zweite Exkursion führte uns in das Exerzitienzentrum der göttlichen Barmherzigkeit St. Clemens in der Nähe des Anhalter Bahnhofs und des Potsdamer Platzes. St. Clemens ist eine katholische Einrichtung, die 1910/11 von Kardinal Clemens August Graf von Galen gestiftet wurde. Zum Exerzitienzentrum gehörte zur Zeit seiner Gründung ein Hospiz (d. h. eine Übernachtungsmöglichkeit) für Wanderarbeiter, Lehrlinge und Gesellen, das heute als Hostel genutzt wird. St. Clemens wird heute von einem eigenen Förderverein und indischen Vinzentinerpatres betrieben. 2005 wurde es vom Erzbistum Berlin zur Finanzierung der Renovierung der Hedwigskathedrale an einen britischen Investor verkauft, der die Kirche wiederum an einen Berliner Geschäftsmann muslimischen Glaubens veräußerte. Dieser plante, dort ein Kulturzentrum einzurichten. Der heutige Förderverein mietet das Exerzitienzentrum von seinem muslimischen Inhaber. 2008 wurde es von Georg Kardinal Sterzinsky wiedereröffnet.
Von dieser bewegten Geschichte berichtete Jan Philipp-Görtz, der stellvertretende Vorsitzende des Fördervereins der St. Clemens-Kirche und ehemaliger Direktor des Berliner Büros der Lufthansa. Seinem sozialen Auftrag kommt das Exerzitienzentrum in einem relativ strengen Rahmen christlicher Missionierung nach. Die Kirche ist 24 Stunden am Tag geöffnet; mehrmals täglich wird die Heilige Messe gefeiert und von früh bis spät hat ein Geistlicher Rufbereitschaft. Im Zentrum der Aktivitäten steht die Ewige Anbetung der konsekrierten Hostie im Hochaltar. St. Clemens definiert sich als universell, eucharistisch und charismatisch – den drei Wesenheiten des christlichen Gottes der Trinitätslehre entsprechend. Das Besondere an der Gemeinde, die sich zur Bewegung der charismatischen Erneuerung zählt, ist der große Erfolg, den sie in den verschiedenen sozialen Schichten und Nationalitäten der Berliner Bevölkerung hat: Täglich kommen über 200 Christen zu den Gottesdiensten, an Sonn- und Feiertagen ist die Kirche meist überfüllt. Sakralmusik, Veranstaltungen und andere Angebote werden ausschließlich von engagierten Ehrenamtlichen organisiert, zu denen auch Menschen wie der BILD-Chefredakteur Alexander von Schönburg zählen, der die Exkursion ebenfalls als Referent begleitete. Von Schönburg betonte, die Kirche sei 1910 inmitten des Berliner Vergnügungsviertels erbaut worden und sei dementsprechend von jeher auf die Bedürfnisse von Christen im urbanen Raum zugeschnitten gewesen.
15. Juni 2019 | Die älteste Moschee Deutschlands – und eine besondere Mission. Wilmersdorfer Lahore-Ahmadiyya-Moschee
Der dritte und letzte Termin der dritten Staffel der Exkursionsreihe fand in der ältesten Moschee Deutschlands, der sogenannten Wilmersdorfer bzw. Berliner Moschee statt. Die Moschee, die in Anlehnung an den indischen Taj Mahal im Mogul-Stil erbaut wurde, befindet sich mitsamt Minaretten inmitten des Wilmersdorfer Wohngebiets in unmittelbarer Nähe zur dänischen und russisch-orthodoxen Gemeinde. Der Islam, der dort gepredigt und gelebt wird, zählt zur Lahore-Ahmadiyya-Bewegung, einer liberalen und demokratisch geprägten muslimischen Glaubensrichtung, die aber von vielen Muslimen nicht anerkannt wird. Mirza Ghulam Ahmad, ihr Gründer und Prophet, sah seine Mission darin, alle Religionen unter dem Banner des Islams zu vereinigen.
Die Wilmersdorfer Moschee wurde von 1924 bis 1928 im Auftrag der Lahore-Ahmadiyya erbaut und richtete sich in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens mit großem Erfolg insbesondere an Konvertiten. In dieser Zeit übte sie eine gewaltige Anziehungskraft auf die Berliner Intellektuellen aus. Gerade die gebildete Bevölkerungsschicht betrachtete den Islam mit großer Faszination und Wohlwollen, weil er mit Mystik und Tradition sowie einer Abkehr von der Leistungsorientierung des Industriezeitalters assoziiert wurde. Heute ist die Gemeinde zwar klein, empfängt aber nach wie vor viele Besucher und öffnet sich für ihren Kiez und ihre Heimatstadt.
Amir Aziz, der Imam der Gemeinde, berichtete vom regen Gemeindeleben und von den Prinzipien des Glaubens der Lahore-Ahmadiyya-Bewegung. Konstantin Manthey von der Katholischen Akademie in Berlin erklärte die sakrale Architektur und die Historikerin Hilal Sezgin-Just sprach über ihr Forschungsgebiet: die Geschichte muslimischer Religion in Berlin.