Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment | Interview mit Frizzi Krella

Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment | Interview mit Frizzi Krella – Guardini Stiftung e.V.

Linien und Licht

Ein Gespräch mit der Kuratorin und Kunsthistorikerin Frizzi Krella über die Ausstellung „Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment in der Guardini Galerie
Von Andreas Öhler

Frau Krella, in der Guardini Galerie findet noch bis zum 26. März 2021 eine Ausstellung der Künstler*innen Ulrike Seyboth und Ingo Fröhlich statt. Der Titel dieser Werkschau: „Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment“. Wie geht das?

Es geht in beiden Werken um die Aufzeichnung von Zeit, die ja etwas Fließendes und gleichzeitig Abstraktes ist. Sie ist nie abgeschlossen. So unterschiedlich ihre Wahrnehmungen sind, reduzieren beide diese in ihrer Weise, in ihrer Technik, und heben sie durch eine ästhetische Transformation während des Schaffensprozesses auf eine abstrakte Ebene. In diesem Minimalismus entsteht ihr jeweils eigenes Universum. Dennoch besteht zwischen den beiden eine Verbindung; sie korrespondieren über die Begriffe „Zeit“ und „Moment“.

Sie sagen, die Zeit ist etwas Abstraktes und Fließendes. Man kann sie nur in der Bewegung erfahren. Kunst ist aber als materialisiertes Werk etwas Statisches. Indem sie einen Prozess abbildet, hält sie ihn fest.

Das gilt sicher für Bilder, die die Vergänglichkeit der Zeit zum Thema machen. Aber hier werden keine Mementi mori abgebildet wie in den Sanduhren barocker Meister. Sondern sowohl Ulrike Seyboth als auch Ingo Fröhlich verfolgen trotz grundverschiedener künstlerischer Ansätze das Ziel, Zeit im Status fluendi zu zeigen. Das heißt auch, mitzureflektieren, wie die Zeit und der Moment ihre künstlerische Wahrnehmung bestimmen und damit in ihr Werk einfließen.

Wie funktioniert das?

Ingo Fröhlich greift Linien aus der Natur mit ihren vegetabilen Formen auf. Reduzierte Landschaften, gezeichnet mit Graphit oder Kohlestiften. Es ist die Reduktion auf den Strich in die Abstraktion, die einem das Grundprinzip von Rhythmus und Bewegung vor Augen führt. Die Linien wirken wie zeichnerische Archetypen. Wir zeigen etwa die Zeichnung Himmelsgegenden, die in Mecklenburg-Vorpommern entstanden ist, ein zeichnerisches Nachspüren der Bewegungen von Luft und Wind. Andere Linien assoziieren Wellen des Meeres im Sand oder Dünengras, sie erscheinen hier als Schraffur, Strukturen gehen in kleinen Strichen auf. Dieser Minimalismus korrespondiert wiederum auf ganz andere Weise mit Ulrike Seyboths Gemälden. Sie geht eigentlich beim Malen ohne bildnerische Idee vor, setzt erst einmal eine Spur, der sie dann folgt. Im Vorantreiben dieser Spur erspürt sie den Moment in seiner ganzen Farbigkeit und lässt so Partituren entstehen. Sie erzielen eine ganz andere Wirkung als die Zeichnungen von Ingo Fröhlich und beide reagieren dennoch nach demselben Wahrnehmungsprinzip auf Licht und Bewegung.

Sie meinen, das Erfahrungsprinzip von Kunst ist dasselbe, wie Zeit und Moment zu erfassen, aber die künstlerischen Mittel sind verschieden?

Ja. Dieses Spiel ist es, was die beiden letztlich zusammengebracht hat. Die Linie zeichnet immer die Zeit – im Sinne einer seismografischen Aufzeichnung –, währenddessen die Malerei mittels der Farbe immer nach dem Licht, der Kraft und ihrer Wirkung sucht. Ingo Fröhlich ist eher ein minimalistischer Zeichner, ihm geht es immer um die Rückführung auf die Linie, den Duktus und den Rhythmus. Damit legt er sich fest: auf die Länge eines Striches, die Form einer Spirale oder Kurve, die im Unendlichen endet.

Rühren diese unterschiedlichen Ansätze vielleicht auch von der Verschiedenheit der Biografien beider Künstler*innen her?

Ingo Fröhlich hat verschiedene berufliche Stationen durchlaufen. Er war Schreiner, dann Tischler, hat in Berchtesgaden Holzbildhauer gelernt, danach an der Kunstschule Berlin-Weißensee Bildhauerei studiert. Aus allen Phasen seines Lebens hat er künstlerische Erfahrungen mitgenommen, die heute in seine Arbeit einfließen. Zudem kommt er von der Insel Norderney, also vom Meer. Ihn beschäftigt immer wieder der Horizont mit seinem Wechselspiel aus Verschwinden und Erscheinen. Ulrike Seyboth stammt dagegen aus dem Erzgebirge und will mit ihren weiten, luftigen, farbigen Bildern etwas dem eingeschränkten Horizont entgegensetzen. Ihre Arbeiten suchen nach Öffnungen, mit denen sie den Moment zu fassen versucht. Die Stille ist dabei stets Teil der Komposition. Diese vermeintliche Leere ist bei ihr ein ganz wichtiges Mittel der Gestaltung und auch des Kontrastes. Das viele Weiß in ihren Bildern ist nicht Nichts, sondern Etwas. Es geht um ein Ausbalancieren. Und damit arbeitet sie. Die Farbe Rot ist anwesend – in anderen Arbeiten überwiegt das Blau.

Wie wählt sie ihre Farben?

Das Licht des Ortes, an dem sie malt, trägt sich in die Bilder ein. Ihr Rot ist auch ein bisschen das Ankämpfen gegen das Grau in Berlin. In Island entstand jedoch eine ganz andere Farbigkeit, das Licht weckte in ihr Emotionen, die sie mit diesem speziellen Blau ausdrückt.

Demnach wechseln beide Künstler*innen häufig den Ort…

Diese Ausstellung heißt zwar „Ich zeichne die Zeit, du malst den Moment“, aber der Untertitel lautet „Atelier Vagabonde“. Das vagabundierende Atelier deshalb, weil die beiden jedes Jahr mindestens zwei Monate unterwegs sind, sowieso schon zwischen Frankreich und Berlin alternieren, aber auch in Ländern wie Island, Finnland oder der Schweiz Stipendien erhielten, um dort zu arbeiten. Die Arbeiten in dieser Ausstellung sind sowohl in Frankreich als auch in Berlin entstanden, eine in Island.

Welche Arbeiten faszinieren Sie besonders?

Ich finde diesen Container sehr interessant. Eine Arbeit von Ingo Fröhlich: Er ist eigentlich eine Skulptur und beinhaltet so etwas wie sein Zeichen-ABC. Das Schöne an diesen Schubladen: Wir haben keine Knöpfe, wir können Sie nicht rausziehen, wir müssen sie schieben. Wir müssen um diese Skulptur herumgehen und nehmen sie somit als Korpus wahr.
In diesem Archiv befindet sich ein Kompendium von Zeichnungen, verschiedene Themen, alles Linien und Lineamente, immer in einem anderen Duktus. Mal ist es der Strich, mal die Spirale oder die unendliche Linie, die eine Figur formt, mal sind es gefüllte Flächen. Fröhlich könnte diesen Schrank, da er oben offen ist, beliebig erweitern. Es ist so eine Art Formensammlung, ein Ur-Archiv der Linien, wenn man so will. Wenn man sich vom Objekt wegbewegt, zeigt sich erst seine Transparenz. Das Bild von Ulrike Seyboth scheint durch und spiegelt sich. Der Betrachter in Bewegung nimmt das oszillierende Spiegelbild mit. Das alles ist also ein Spiel mit Spiegelung und Transparenz.

Und was ist Ihr Favorit bei Ulrike Seyboth?

Aus gesundheitlichen Gründen hat sie eine neue Technik entwickelt; sie erträgt immer schwerer das Arbeiten mit Ölfarben. Ich mag die Gymnopédie en bleu sehr, eine Hommage an ein Musikstück von Eric Satie, hier reflektiert sie nicht nur über den Moment, sondern über die Komposition an sich. Es sind das Spiel und die Freude unendlicher Variationen mit Zufälligkeiten! Sie verwendet darin die „schönen Stellen“ aus früheren Blättern, die sie verworfen hat, sogenannte images perdus. Sie lässt sie auf das Blatt fallen – Fall und Zufall, diese finden hier zusammen. Ich finde es ganz wunderbar, hier einmal den Wurf einer ganzen Serie zu sehen, bei dem die einzelnen künstlerischen Arbeitsgänge besonders transparent werden.

Gibt es das bei Ingo Fröhlich auch?

Oh ja! Ein performativer Höhepunkt beim Aufbau der Ausstellung kam für mich noch hinzu: Auf einer vorbereiteten, schwarz gestrichenen Wand hat Ingo Fröhlich buchstäblich aus dem Handgelenk eine Zeichnung geschaffen, mit Kreide, gezeichnet in noch nicht einmal einer Stunde. Linie zum Strich. Das habe ich gefilmt. Er hat sehr performativ mit einer Bewegung, die aus dem ganzen Körper entsteht, diese Linien gezeichnet, ohne abzusetzen. Die Bögen wuchsen, wurden immer größer. Wenn die Kreide abbrach und er neu ansetzten musste, hat er das nicht kaschiert. Ich habe es als ein großes Geschenk empfunden, dabei zu sein.

Teaser: Ulrike Seyboth, Sternbild II, 2020, VG Bild Kunst, Bonn 2020, Foto (c) Uwe Walter

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