Der Blick auf das Weltgeschehen lässt erschaudern. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine geht ins dritte Jahr ohne eine Aussicht auf Frieden. Der Namensgeber der Guardini Stiftung schrieb den Satz: „Die wirkliche Herrschaft ist nicht Gewalt, sondern die Wahrheit.“ (R. Guardini, Der Heilige in unserer Welt) Damit kann er nur die göttliche Herrschaft des wiederkehrenden Messias im Sinn gehabt haben. Das bei Johannes 14,6 überlieferte Jesuswort: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ kann nur in Verbindung mit dem Erlösungsbegriff sinnvoll sein. Irdische Machthaber, die die Wahrheit für sich beanspruchen, sind die, die sie mit Gewalt durchsetzen. Aber Gewalt hat eben auch, wie die Historikern Dr. Maria Teresa Börner in dieser Ausgabe zeigt, einen Januskopf.
Über Gewalt sollte man nicht aus dem Elfenbeinturm schreiben. Gelegentlich ist es auch gut, sie zu beschreiben. Dr. Nikodemus Schnabel, Abt der Dormitio-Abtei in Jerusalem, und seine Mitbrüder wurden öfter von radikalen Ultraorthodoxen bespuckt und beschimpft. Welche Rolle die Christen in dem Nahostkonflikt um Gaza nun spielen könnten, darüber gibt er Auskunft. Das Gespräch ist in ähnlicher Form schon in der ZEIT-Beilage „Christ & Welt“ erschienen.
Gewalt – Der Januskopf betritt die Bühne
Mit Gewalt assoziieren wir vornehmlich physische Gewalt. Der Folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Ambivalenz von Gewalt. Von Maria Teresa Börner
Lange Jahre wähnten wir den Januskopf – das Gesicht des römischen Gottes Janus mit seinem nach vorwärts und gleichzeitig nach hinten blickendem Gesicht, im Reich der römischen Gottheiten. Nun tritt er in Kriegen und blutigen Auseinandersetzungen unserer Tage vehement ins Rampenlicht.
In der Gewalt begegnet er dem Menschen zwiespältig wie die römische Gottheit. Zunächst ist Gewalt die Macht bzw. Befugnis, über jemanden oder etwas zu bestimmen.
Der anglikanische bzw. romanische Sprachraum kennt für den einen deutschen Begriff Gewalt zwei Begriffe: power oder lateinisch potestas und meint damit die Amtsgewalt; die Begriffe violence oder lateinisch violentia dagegen stehen für physische Gewalt. Anders als im Deutschen wird hier bereits durch die Worte in physischer und sogenannter institutioneller Gewalt unterschieden.
Institutionelle Gewalt verstehen wir gemeinhin als „ordnende Gewalt“. Art. 20 des Grundgesetztes der Bundesrepublik Deutschland legt fest: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Damit steht fest, dass sich in einer Demokratie das Volk selbst die Regeln und Rahmenbedingungen gibt, wie das gesellschaftliche Zusammenleben organisiert wird: die konstruktive Seite der Gewalt.
Wie wir wissen, blickt der Janus gleichzeitig in die entgegengesetzte Richtung. Damit ist die uns aktuell sehr präsente physische Gewalt gemeint. Sie verletzt Menschen, zerstört Institutionen und Ordnungen: die destruktive Seite der Gewalt.
Geschieht sie außerhalb der Öffentlichkeit, ist sie lautlos und wird nicht wahrgenommen. Das gilt vor allem für psychische Gewalt, die den Menschen als Individuum beschränkt. Entwicklung und Fantasie ist in beschränkten Rahmenbedingungen kaum möglich, insbesondere in Diktaturen.
Kriege sind laut und wahrnehmbar. Die Vielzahl an Opfern und der Menschen, aber auch die von Bomben zerstörten Einrichtungen und Gebäuden sind stummer Zeuge der gewaltigen Kraft der Waffen.
Wir tun gut daran, den leisen Tönen zu lauschen, um die verborgene Ausprägung von Gewalt ans Licht zu fördern.
Paradox jedoch ist, dass jede Form von Friedlichkeit zu Gewalt führt. Dies zeigt sich aktuell auf allen Kriegsschauplätzen dieser Welt. Das Ergebnis der Münsteraner Vortragsreihe im Sommer 2023, herausgegeben von Michael Rutz: Krieg! Und Frieden? Herder 2023 zeigt dies eindrucksvoll. Schwache Menschen, die sich benachteiligt fühlen, zetteln Kriege an, um ihrer gefühlten Unterlegenheit zum Durchbruch zu verhelfen. Aufrüstung dient der Abschreckung vor einem Übergriff und schützt Land und Gesellschaft nach außen hin. Erst dann findet die Gesellschaft Ruhe, sich um ihre innere Ordnung zu kümmern.
Etymologisch verwand mit dem Wort Gewalt ist das Wort walten. Milde, Vernunft und Zurückhaltung walten lassen. Das kennen wir als versöhnendes Angebot bei Streitigkeiten.
Wie kann der Umgang zwischen den Menschen gelingen?
Destruktive und konstruktive Seite sind eng miteinander verbunden und voneinander abhängig. Erst das Innehalten erlaubt eine Neubewertung der Situation. Die christliche Haltung wie Geduld und Demut diene als Leitlinie und Orientierung. So entwickelte es Romano Guardini angesichts des rasant zunehmenden technischen Fortschrittes, der den Menschen zu überrollen drohe.
Wie umgehen mit der Gewalt im Nahen Osten?
Nikodemus Schnabel ist Abt in Jerusalem. Er arbeitet schon länger zwischen den Fronten. Ist unter all dieser entfesselten Gewalt Versöhnung möglich?
Ein Interview von Andreas Öhler
Abt Nikodemus, Sie ringen als Haupt der benediktinischen Abtei auf dem Zionsberg, dem exponiertesten Kloster in Jerusalem, eigentlich schon von Amts wegen um Ausgleich. Wie sehen Sie diesen Krieg? Kann man auf Versöhnung hoffen?
Nikodemus Schnabel: Als Gebot der Stunde braucht es Versöhnung dringender denn je. Rache ist doch keine zukunftsträchtige Antwort. Was wäre denn die Alternative zur Versöhnung? Dass Israel Gaza vollkommen dem Erdboden gleichmacht? Oder dass die Hamas weiterhin bald wieder mithilfe ihrer Verbündeten die Existenz Israels gefährden kann?
Haben Sie in den vergangenen Tagen ein versöhnliches Wort zwischen Palästinensern und Juden gehört?
Schnabel: Nein. Unter den Politikern sehe ich gerade, was die deeskalierende Kommunikation anbetrifft, nur totales Versagen, ja sogar verbale Dehumanisierung der jeweils anderen Seite. Zum Glück gibt es aber auch auf beiden Seiten wunderbare Menschen, die selbst jetzt noch Quellen der Hoffnung sind. Es ist ein Skandal, den aber nicht ich, sondern Jesus verursacht hat und der biblisch ist: „Liebet eure Feinde!“ Es ist ein Skandal, weil wir schon aus Überlebensgründen verinnerlicht haben, dass die Tötung eines Menschen die schlimmste Sünde überhaupt ist. Ein Fall für die ewige Verdammnis.
Ist Feindesliebe, wenn sie am falschen Ort zur falschen Zeit gepredigt wird, nicht ein missverständliches Signal?
Schnabel: Natürlich. Alles zu seiner Zeit. Ich bin mit jüdisch-israelischen Freunden in Kontakt, die Nahestehende verloren haben. Ich selbst habe auch jüdische Freunde, die entführte Freunde vermissen. Am Leid dieses Krieges bin ich nah dran.
Wie sieht dieses Nah-dran praktisch aus?
Schnabel: Ich telefoniere mit ihnen. Ich merke, wie ihnen das guttut, dass ich ihnen zuhöre – und sie in meine Gebete einschließe. Deshalb bin ich ja hauptberuflich als Mönch hier im Heiligen Land: um Gott und den Menschen zu suchen. Aber als gläubiger Christ muss ich doch auch die Menschen im Blick haben. Und ich sehe jetzt, dass ihnen ihr Leben geraubt wird, Biografien zerstört werden. Auf beiden Seiten werden Unschuldige hineingezogen in einen Konflikt, den sie nicht verursacht haben.
Bräuchte es im theologischen Verständnis von Versöhnung nicht irgendwann einen Schlussstrich? Da aber alle gegnerischen Parteien ihre kriegerischen Motive aus ihrer politischen Leidensgeschichte ableiten, ist das zu schwierig?
Schnabel: Einen Schlussstrich fände ich hochproblematisch, eine Reinigung des Gedächtnisses halte ich dagegen für geboten. Ziel muss es sein, dass ehemalige Feinde ihre Geschichte gemeinsam erzählen können, ohne Auslassungen oder Hinzufügungen und mit einem wohlwollenden Blick auf das Narrativ der jeweils anderen Seite. Die Fakten haben beide Lager gut sortiert.
Welche Fakten halten Sie für entscheidend?
Schnabel: Zu den Israelis sage ich, dass ich vollkommen verstanden habe, dass ihr Grundbedürfnis nach Sicherheit bedeutet, nie wieder wehrlos zu sein. Wer nach der Shoah Israel dafür kritisiert, dass sie kein zweites Auschwitz erleben wollen, der ist ein bigotter Heuchler. Denn er weiß sehr gut: Verliert Israel den Krieg, droht diesem Staat die Auslöschung. Aber auch den Wunsch der Palästinenser finde ich nachvollziehbar, im Kontext des Selbstbestimmungsrechts der Völker, einen eigenen Staat zu fordern. Palästina hat nicht den Status eines Vollmitglieds der UN, da er von drei ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates nicht anerkannt wird.
Und wo liegen für Sie die Grenzen der Empathie für die Menschen in Gaza?
Schnabel: Ich habe niemals Empathie für Gewalt oder gar Morden.
Es handelt sich hier um einen Religionskonflikt mit politischen Mitteln oder umgekehrt?
Schnabel: Das Problem dieser Region ist nicht, dass Religion sich politisiert hat, sondern dass sich Politik religionisiert. Wäre die Hamas ehrlich, müsste sie zugeben: Uns geht es um Geld, Macht und einen ideologischen Terrorstaat. Kaum anders bei den nationalreligiösen radikalen Juden: Wenn jüdische Nationalisten in unserem Kloster am Sabbat die Fensterscheiben einwerfen, kann ich ihnen nur sagen, dass es für gläubige Juden nichts Schlimmeres gibt, als eine derartige Entweihung des Feiertags. Solche Leute studieren nicht den Talmud und die Thora. Hier bekriegen sich Religions-Hooligans, sie unterscheiden sich nur im Trikot. Auch die IS-Kämpfer konnten oft weder Arabisch, noch kannten sie den Koran. Und errichteten ein islamistisches Kalifat.
Der Vatikan hat sich als Vermittler angeboten. Von den Kreuzzügen bis zur Judenverfolgung: Haben die Christen nicht auch einiges auf dem Kerbholz? Versöhnung mussten sie in zwei Jahrtausenden auch erst lernen.
Schnabel: Seit den 1960er-Jahren hat die katholische Kirche mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine Kehrtwende vollzogen. Jede Verachtung gegenüber Anhängern einer anderen Religion und auch nichtreligiöser Menschen verbietet sich.
Es gibt einen Satz von Amos Oz: „Der Frieden ist kein Ausbruch der Liebe, keine mystische Kommunikation unter Feinden, sondern nicht mehr und nicht weniger als ein vernünftiger Kompromiss unter Gegnern.“ Teilen Sie das?
Schnabel: Gute Politik ist stets ein Kompromiss. Wer Kompromisse schließen möchte, gilt oft als Weichei, als Versager, als Nichtskönner. Aber es erfordert Mut, ihn zu wagen.
Der Schriftsteller Amos Oz setzte allerdings auf Vernunft, nicht auf Mystik.
Schnabel: Gott hat uns Verstand und Vernunft geschenkt, und damit erst die Fähigkeit zu kommunizieren. Rede ich über den Nahostkonflikt politisch, muss ich sagen: Landkarten auspacken. Wo soll die Grenze verlaufen? Der Job der Politiker ist, säkular und pragmatisch zu sondieren. Und nicht zu sagen: Gott ist mit uns. Gott wird in solchen Konflikten stets nur instrumentalisiert.
Und wie argumentiert der Mystiker in Sachen Versöhnung?
Schnabel: Gott sitzt nicht mit dem Geografie-Atlas im Himmel und ordnet das Heilige Land nach seinen Plänen. In der Religion sind viel unmittelbarer als in der Politik Vergebung, Umkehr und Reue möglich. Sie ist verbunden mit dem Herzen, kann Trost spenden. Religion rechnet mit dem Scheitern von uns Menschen, hat keine Angst davor. Ich kann in meiner Kirche zwar keinen Weltfrieden herstellen, aber Momente des Friedens schaffen, wo man zu Gott, zueinander und zu sich finden kann.
Pater Schnabel, wir danken Ihnen für das Gespräch
Nikodemus Schnabel trat 2003 in die Benediktinerabtei der Dormitio in Jerusalem ein, zu deren Abt er 2024 gewählt wurde. Der Ostkirchenexperte setzt sich vor Ort für Verständigung ein.