Guardini akut | Nr. 54 | 15. Februar 2023

Guardini akut | Nr. 54 | 15. Februar 2023

Man kann bekanntermaßen an allem zweifeln. Das gilt nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Politik und – natürlich – im Glauben. Sie können infrage stellen, ob diese oder jene Studie etwa zum Coronavirus sauber durchgeführt wurde, ob eine Politikerin oder ein Politiker die Wahrheit sagt, Sie können daran zweifeln, ob die Kirche wirklich zeitgemäß agiert oder ob Gott, dem Sie vermutlich leibhaftig noch nicht begegnet sind, tatsächlich existiert. Zweifel können Sie sogar noch tiefer angreifen: Haben Sie sich wie René Descartes schon einmal gefragt, ob die Dinge und Wesen, die Sie um sich herum wahrnehmen, überhaupt existieren, ja, ob Sie selbst nicht nur eine Illusion sind? Vielleicht träumen Sie, vielleicht spielt Ihnen Ihre Vernunft Streiche. Wer zweifelt, ist nicht nur auf sich allein gestellt, er oder sie kann schnell vollkommen den Boden unter den Füßen verlieren.

Die beide Protagonistinnen der aktuellen Ausgabe von Guardini akut sind trotzdem Fürsprecherinnen des Zweifels! Wolfgang Thierse findet es bedauerlich, dass Zweifel im politischen Alltag so unpopulär sind, dass Zögern gar Wählerstimmen kostet und von der Presse gnadenlos negativ ausgelegt wird. Dabei können Zweifel helfen, bessere Entscheidungen zu treffen und die Interessen der Wähler*innen nicht aus den Augen zu verlieren.
Die Benediktinerschwester Teresa Forcades i Vila betrachtet den Zweifel als eine Chance, ein vertrauensvolleres Verhältnis zu Gott zu entwickeln. Und selbst die Zweifel, die die Krise in der Kirche auch bei ihr auslösen, kehren ihren Optimismus nicht ins Gegenteil um.
René Descartes‘ Geschichte geht übrigens gut aus: Der radikale Zweifel, den er kultiviert, um herauszufinden, was sicher gewusst werden kann, legt den Grundstein für die ganze neuzeitliche Philosophie.

Vielleicht können wir aus den Überlegungen dieser drei einen zugegebenermaßen verspäteten Vorsatz fürs neue Jahr ableiten: Erlauben Sie sich, hin und wieder Ihre Zweifel zuzulassen. Am Ende verwandeln sie sich womöglich in etwas Wunderbares.

Wir wünschen Ihnen eine inspirierende Lektüre!
Ihr Team der Guardini Stiftung


Zweifel(n) in der Politik?

Öffentlich Zweifel zu äußern, wird in der Politik als Schwäche ausgelegt. Die Wählerschaft leitet daraus Unsicherheit ab. Meldet man in der eigenen Partei Zweifel zu einer politischen Entscheidung an, gilt man schnell als Spaltpilz. Und Streit kostet bekanntlich Wählerstimmen. Dabei sind Zweifel der Nährboden, auf dem unsere Demokratie wächst und gedeiht. Warum sie dennoch einen so schlechten Ruf haben, liegt nicht zuletzt an den Medien.
Von Wolfgang Thierse

„Nur die Harten kommen in den Garten“, so heißt einer jener rotzigen Sprüche, die in der politischen Sphäre herumgeistern. Zweifler gelten also als Weicheier, als zu sensibel für die Härten des politischen Geschäfts. Sie werden keine Karriere machen oder scheitern. (Ich weiß nicht, ob ich selbst mich als Ausnahme von dieser Regel bezeichnen darf, jedenfalls war ich vom Anfang meines öffentlichen politischen Lebens an nicht immer meiner Sache so sicher, wie das wohl verlangt wird.)

Darf man überhaupt in der Politik Zweifel haben und sie gar öffentlich bekunden oder sie wenigstens durchschimmern lassen? Man hat sie aber. Angesichts der Problemfülle, der divergierenden Lösungsvorschläge, der Interessengegensätze, der konkurrierenden Geltungsansprüche. Was ist absolut richtig, was ist die einzig mögliche, wenigstens die mit großer Wahrscheinlichkeit beste Lösung? In meinem Kopf hat mehr als eine Meinung Platz, habe ich immer mal wieder behauptet. Und das gilt noch heute, macht aber das Entscheiden nicht unbedingt leichter. (Leider muss – oder darf – ich heute, als nur noch ehemaliger Politiker, nichts mehr entscheiden, zum Glück, aber doch auch schade.)

(Selbst-)Zweifler sollten gefälligst Lyriker werden und nicht Politiker, so eine weitere Redensart. Denn: Politik heißt, immer wieder Entscheidungen zu treffen und zwar unter Unsicherheits-, unter Ungewissheitsbedingungen. Man kann sich nie sicher sein, ob die zu treffende Entscheidung genau jene Wirkung erzielt, die beabsichtigt ist. Und trotzdem muss entschieden werden, müssen also auch Zweifel überwunden werden. Und mehr noch: Die Entscheidungen sollen Sicherheit geben, mindestens das Gefühl von Sicherheit vermitteln, den Eindruck von Souveränität, von Problemherrschaft. Das ist nicht nur der Wunsch auf der Politikerseite, sondern auch die Erwartung (gar Sehnsucht?) des Publikums, der betroffenen Bürgerschaft. Wie sollen Entscheidungen da von öffentlichen Zweifeln begleitet werden können?! Das wäre einigermaßen kontraproduktiv und für die Entscheidungswirkung vermutlich zerstörerisch.

Im Prozess der Entscheidungsfindung waren und sind allerdings immer und immer wieder Zweifel auszuräumen – durch die gewissenhafte Prüfung von Alternativen. Das aber verlangt Zeit. Und genau die wird Politikern nicht gelassen: von den politischen Konkurrenten und mehr noch von den Medien, von der Journaille, also den Akteuren einer sich steigernden Ungeduld, die guter demokratischer Politik nicht bekömmlich ist. Eine Ungeduld, die auch durch die Problemfülle und den Problemdruck verstärkt wird. Ein zögerlicher, weil nachdenklicher Politiker gilt als schwacher Politiker. Nicht sofort (zurück-)schießen zu lassen, nicht binnen Stunden das Verteidigungsministerium nachzubesetzen, überhaupt öffentliche Erwägungen anzustellen, das Für und Wider einer möglichen Problemlösung zu präsentieren und nicht ohne viel Federlesen die gewählte Problemlösung als die schlechthin perfekte vorzulegen – das alles erscheint als Schwäche in den Augen eines ungeduldigen, misstrauischen, erlösungssüchtigen Publikums.

Aber die Zweifel nagen weiter, zum Glück nicht nach jeder Entscheidung. Und vor allem drängt die nächste Entscheidung ja schon und verjagt die Zweifel an der vorherigen. Man beruhigt sich, wenn andere, zumal Experten, gar Autoritäten das gleiche meinen. Und man entwickelt Hornhaut, „Resilienz“ heißt die heute.

Natürlich muss man als Politiker auch schlicht Glück haben mit seinen Entscheidungen. Der weitere Gang der Dinge muss sie, wenigstens teilweise, bestätigen. Und man hofft beim Wahlvolk auf Verständnis für das immer Riskante politischer Entscheidungen, hofft auf einen Vertrauensvorschuss, der durch Zweifelsdemonstrationen nicht unbedingt gestärkt wird. Die Bundeskanzler, die ich miterlebt habe – von Kohl über Schröder und Merkel bis zu Scholz – sind nicht durch öffentliche (Selbst-)Zweifel aufgefallen und, vermutlich, auch deshalb (wieder‑)gewählt worden.

Öffentliche Zweifelsbekundungen und Zweifelseingeständnisse schaffen wohl kein Vertrauen, kein Sicherheitsgefühl, keine Autorität – also das, was die Mehrheit des Wahlvolkes sich erklärlicherweise wünscht. Erst recht nicht in krisenhaften Zeiten überwältigender Problemfülle. In denen mehr denn je Kompetenz, Tatkraft, Entscheidungsfreude, Führungsstärke (und wie die Vokabeln sonst noch heißen) von Politikern erhofft, nein: erwartet, nein: verlangt werden. (Und der Ruf nach Ehrlichkeit in Sachen persönlicher Zweifel ist, wenn er von Journalisten kommt, nichts anderes als heuchlerisch. Denn die sind die Ersten, die den ehrlichen Politiker aufs öffentliche Schafott bringen.) Eigentlich schade.

Guardini akut | Nr. 54 | 15. Februar 2023 – Guardini Stiftung e.V.

Wolfgang Thierse amtierte von 1998 bis 2005 als Präsident des Deutschen Bundestages und war von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident. In den letzten Tagen der DDR trat er der SPD bei und wurde stellvertretender Parteivorsitzender. Als eines von 77 Mitgliedern der Volkskammer wurde er in den Bundestag gewählt. Wolfgang Thierse ist Vorsitzender der Willy-Brandt-Stiftung sowie Mitherausgeber der Zeitschriften „Publik Forum“ und „Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte“.

Foto: © Deutscher Bundestag


Guardini akut | Nr. 54 | 15. Februar 2023 – Guardini Stiftung e.V.
Francisco de Goya i Lucientes, Die verstorbene Wahrheit, Los desastres de la guerra, Nr. 79, 1814–1815

Der radikale Zweifel des René Descartes

„Ich will also annehmen, dass nicht der allgütige Gott die Quelle der Wahrheit ist, sondern dass ein boshafter Geist, der zugleich höchst mächtig und listig ist, all seine Klugheit anwendet, um mich zu täuschen; ich will annehmen, dass der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Tone und alles Aeusserliche nur das Spiel von Träumen ist, wodurch er meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt; ich werde von mir selbst annehmen, dass ich keine Hände habe, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, keine Sinne, sondern dass ich mir nur den Besitz derselben fälschlich einbilde; ich werde hartnäckig in dieser Meinung verharren und so, wenn es mir auch nicht möglich ist, etwas Wahres zu erkennen, wenigstens nach meinen Kräften es erreichen, dass ich dem unwahren nicht zustimme, und mit festem Willen mich vorsehen, um nicht von jenem Betrüger trotz seiner Macht und List hintergangen zu werden. Aber dieses Unternehmen ist mühevoll, und eine gewisse Trägheit lässt mich in das gewohnte Leben zurückfallen. Wie ein Gefangener, der zufällig im Traume einer eingebildeten Freiheit genoss, bei dem späteren Argwohn, dass er nur träume, sich fürchtet, aufzuwachen, und deshalb den schmeichlerischen Täuschungen sich lange hingiebt, so falle ich von selbst in die alten Meinungen zurück und scheue das Erwachen, damit nicht der lieblichen Ruhe ein arbeitsvolles Erwachen folge, was, statt in hellem Licht, in der unvertilgbaren Finsterniss der angeregten Schwierigkeiten verbracht werden muss.“

Aus: René Descartes‘ philosophische Werke. Abteilung 2, Berlin 1870, 1. Mediation.


„Die Angst kann nicht übersprungen werden!“

Im Gespräch mit der Benediktinerschwester Teresa Forcades i Vila über Glauben, Zweifel und Gottvertrauen.
Von Patricia Löwe

Patricia Löwe: Zweifel gehören zum Glauben dazu, das weiß jeder, der sich nicht intensiv in Selbstbetrug übt. Was hat Sie in Ihrem Leben als Christin, als Ordensschwester, am meisten zum Zweifeln gebracht?

Sr. Teresa Forcades: Mit 15 habe ich zum ersten Mal die Evangelien gelesen. Danach war ich wütend, weil ich bis dahin nicht gewusst hatte, dass es einen solchen Gott gibt. Damals habe ich begonnen, zu glauben. Seitdem habe ich nie daran gezweifelt, ob Gott existiert.
Trotzdem kenne ich Zweifel, und zwar in zwei Richtungen. Die erste Richtung ist: Was will Gott von mir? Manche Leute denken, Gläubige haben es leichter als Menschen, die nicht an Gott glauben, denn Gläubige wissen, was sie zu tun haben. Aber das stimmt nicht. Gott sagt: „Tue Gutes! Liebe!“ Aber was bedeutet es konkret, zu lieben? Was ist konkret das Gute, das ich tun soll?
Therese von Lisieux gab ihren Novizinnen die Aufgabe, zu versuchen, einen Tag lang nur Gutes zu tun. Wer das schon einmal versucht hat, bemerkt, dass das nicht so einfach ist.

Unmöglich eigentlich!

Genau, es ist unmöglich. Therese von Lisieux schließt daraus, dass es nötig ist, anzuerkennen, dass jeder Mensch die Unterstützung Gottes braucht, um das Gute zu tun. Das bedeutet, dass wir Gott vertrauen müssen. Und hier wird es interessant: Der Zweifel daran, was das Richtige und Gute ist, das ich tun soll, bringt mich erst zum Vertrauen! Glauben bedeutet für mich keine Sicherheit. Es gibt immer viele Möglichkeiten, die sich als wahr herausstellen könnten, auch Dinge, die ich mir gar nicht vorstellen kann. Wenn ich für diese Möglichkeiten offen bin oder werde, sind das Glauben und Vertrauen. Und das geht nur durch den Zweifel.
Deshalb lese ich so gern die Mystiker*innen! Sie öffnen die Fenster, sie öffnen die Türen, einfach alles. Und wenn ich dann frage: „Ja, aber, wo ist meine Unterstützung?“, dann lautet die Antwort: „Unterstützung kommt nur von Gott.“ „Ja, aber wo ist Gott?“ „Das weiß nur Gott!“ Diesem Denken entspricht etwas in mir.
Ich glaube, wir Menschen brauchen diese Offenheit. Der Zweifel ist wie eine dekonstruktive Phase, die der Erfahrung des radikalen Vertrauens vorausgeht. Vielleicht stimmt es nicht, was du über dich selbst oder über die Welt denkst. Solche Zweifel machen Angst. Aber es geht darum, diese Unsicherheit auszuhalten und Gott zu vertrauen. In der biblischen Sprache würde man sagen: Es geht darum, sich kein Bild zu machen. An allem kann gezweifelt werden; nur darauf, dass Gott da ist, können wir uns verlassen.

Das klingt für mich nach einer schwierigen Aufgabe.

Das stimmt. Es sind nur Worte, die ich jetzt sage. In Wirklichkeit ist es nicht so einfach, offen in seinem Selbst- und Weltbild zu sein.

Wie hält man das aus? Wie erträgt man diese Unsicherheit?

Zu zweifeln und zu vertrauen, ist keine Erfahrung, die du ein Mal jährlich ganz intim für dich machst. Ich übe das täglich. Wenn du dir selbst erlaubst, dich zu öffnen und das immer wieder übst, verwandelt sich Zweifel immer wieder in Offenheit und in radikales Vertrauen. Das ist eine Art und Weise, in der Welt zu sein.
Natürlich ist es normal, das man auf Angst und Negatives mit dem Bedürfnis nach Sicherheit reagiert. Aber zu glauben, man könne alles kontrollieren und wirklich sicher werden, ist eine Falle.

Braucht man das nicht manchmal auch, sich sicher zu fühlen?

Spontan würde ich sagen: „Nein!“ Aber wenn ich in den Evangelien lese, dass Jesus keinen Ort hatte, an den er seinen Kopf betten konnte, denke ich, dass er uns vielleicht sagen würde: „Das wünsche ich euch nicht! Im Gegenteil.“
Teresa von Ávila hat einmal eine Schwester begleitet, die im Sterben lag. Während sie am Bett der Sterbenden saß, hatte Teresa eine Vision: Die Schwester hatte ihren Kopf in Jesu Hände gelegt. Teresa war sehr froh über diese Vision; sie wusste ihre Schwester würde in Jesu Händen sterben. Sie betete: „Mögen all meine Schwestern in deinen Händen sterben.“ Und Jesus antwortete: „Sie werden so leben!“
Wenn wir Zweifel mit etwas Negativem in Verbindung bringen, brauchen wir Ruhe, Sicherheit und Kontrolle. Aber Mangel an Kontrolle und Sicherheit ist auch eine Bedingung für Gotteserfahrung! Und von dieser Erfahrung möchte ich mich nicht ausruhen oder zurückziehen. Natürlich möchte ich immer wissen, dass ich in Gottes Händen lebe. Allerdings ist das nur möglich, wenn etwas in mir sich bekehren lässt, sich Gott zuwendet. Diese Bekehrung passiert nicht nur einmal im Leben. Es ist nicht so, dass ich, seit ich vor 25 Jahren ins Kloster eingetreten bin, „meine Ruhe habe“. Ich bin eingeladen, täglich diese Bekehrung zu erfahren, die mich in die große Offenheit bringt.
Als junge Frau war ich in vielen Dingen viel sicherer, aber nicht glücklicher.

Sie haben gesagt, dass Sie an der Existenz Gottes nie gezweifelt haben. Wie erklären Sie sich, dass Sie sich dessen so sicher sind.

Eben habe ich gesagt, ich kenne zwei Ebenen des Zweifelns. Ich habe die eine beschrieben. Die andere ist, dass ich mich immer wieder gefragt habe, ob ich die Kraft habe, den Weg Gottes, wie ich ihn verstehe, zu gehen, also meiner Berufung zu folgen. Im Kloster habe ich Erfahrungen gemacht, die sehr schwer für mich waren. Vielleicht waren das sogar die besten Erfahrungen meines Lebens, aber sie waren sehr schwer auszuhalten. Ich dachte: Gott ruft mich, aber ich schaffe das nicht! Und natürlich habe ich mich auch gefragt, ob Gott mich wirklich ruft oder ob er etwas anderes von mir möchte.
Teresa von Ávila hat gesagt: „Ich habe so viele Visionen, denn ohne Visionen würde ich nicht glauben.“ Vielleicht könnte ich ohne das kontinuierte Vertrauen, dass es Gott gibt, nicht weitermachen. Andere folgen einem anderen Weg und machen die Erfahrung der „dunklen Nacht“, so wie Therese von Lisieux, mit der ich mich aktuell beschäftige. Ihre „dunkle Nacht“ begann am Ende ihres Lebens – da war sie 23. Sie fragte sich, ob es Gott und den Himmel wirklich gibt.

Bringt sie die Krise in der Kirche zum Zweifeln?

Auch hier muss ich ehrlich sein: Ich habe nie gezweifelt, ob ich in der Kirche bleiben sollte oder nicht. Obwohl ich als Kleinkind getauft wurde, war ich schon 15, als ich mich nochmal bewusst entschieden habe, Mitglied der Kirche zu sein.
Deswegen war ich nie naiv in Bezug auf diese Institution. Ich wusste Bescheid über das Negative; was für mich neu war, war das Positive! Auf der einen Seite steht natürlich die Kirche mit ihrer ganzen, zum Teil schrecklichen Geschichte, auf der anderen Seite gibt es aber das, was ich in den Evangelien gefunden habe. Das hat mich überzeugt: Wäre die Kirche noch schlimmer, würde ich noch stärker an der Kirche hängen. Insofern ich gut bin, um zu helfen. Insofern ich nicht so gut bin, andere zu bekehren. Ich erkenne an, dass auch ich Grenzen habe, dass es in mir Unehrlichkeit oder innere Gewalt gibt. Natürlich habe ich niemanden getötet oder vergewaltigt, das ist klar. Und ich möchte niemanden entschuldigen. Aber jedes Verbrechen, auch wenn es bestraft werden muss, hat seinen Grund im Inneren des Menschen, der es begangen hat. Und diesen Menschen sind häufig selbst furchtbare Dinge passiert.

Trotzdem gibt es doch auch ein strukturelles Problem in der Kirche.

Auf jeden Fall. Ich finde, dass die Strukturen der Kirche radikal verändert werden müssen. Dass dort immer noch Hierarchien herrschen, bei denen bestimmte Entscheidungen nur von Ordinierten getroffen werden und Frauen keine Ordinierten sein können, darf nicht sein! Das lässt sich nicht verteidigen. Das entspricht nicht den Evangelien und auch nicht der Menschenwürde. Für mich ist das sehr wichtig.
Aber ich bin nicht in der Kirche, weil ich eine theoretische Bewertung vorgenommen habe; ich bin in der Kirche, weil ich eine Berufung erfahren habe. Die ist nicht abhängig davon, wie gut mir die Kirche gefällt. Ich freue mich über die Dinge, die gut sind. Aber wenn ich etwas finde, was mir nicht gefällt, versuche ich einen konstruktiven, couragierten Beitrag dazu zu leisten, dass es sich ändert.
Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen meinem Engagement gegenüber der Kirche und gegenüber der Welt, der Menschheit, der Gesellschaft. Es ist für mich nicht genug, all meine Kräfte nur in der Kirche einzubringen. Seit ich ins Kloster eingetreten bin, gibt es eine positive Spannung zwischen meinen Aktivitäten in der Gemeinschaft und denen draußen in der Welt. Das alles gehört zu meinem Weg mit Gott.

Zum Schluss: Haben Sie vielleicht einen Tipp, wie man die Angst überwinden und zum Vertrauen kommen kann?

Die Angst kann nicht übersprungen werden. Wenn ich allein im Gebet bin, nutzen mir Worte nichts. Weg damit, alles Quatsch! Was wirklich ist, ist, wie ich mich jetzt fühle. Vielleicht ist das nicht, was ich fühlen wollte. Aber das ist in diesem Moment meine Wirklichkeit. Die Psalmen lehren mich, alles vor Gott zu bringen: Angst, Wut, Rache, all diese Dinge, die wir manchmal wegschieben oder zensieren wollen.
Mein Herz ist nicht heilig. Ich habe all diese Gefühle. Und sie werden noch schlimmer, wenn ich sie nicht mit ins Gebet bringe. Ich bringe das alles vor Gott und lasse es sich transformieren. Gott arbeitet mit uns, aber eben nur mit der Wahrheit. Mein Tipp ist, all das zu akzeptieren und dich für Gott zu öffnen. In dir kannst du immer zweifeln, aber die Zweifel bringen dich zu einem größeren Vertrauen.

Guardini akut | Nr. 54 | 15. Februar 2023 – Guardini Stiftung e.V.

Sr. Dr.in Dr.in Teresa Forcades i Vila lebt als Ordensschwester im Kloster Sant Benet de Montserrat bei Barcelona. Die Katalonierin ist außerdem Ärztin, Doktorin der öffentlichen Gesundheit und Doktorin der Theologie. Sie studierte u. a. an der Universität Barcelona, an der State University of New York und in Harvard. Bekannt wurde sie für ihre feministische und kapitalismuskritische Haltung, die sie auch als Theologin vertritt.

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