Die Guardini Stiftung trauert um Bernd Thiemann

Die Guardini Stiftung trauert um ihren Kuratoriumsvorsitzenden und Vorstandsmitglied Dr. Bernd Thiemann

* 5. Juli 1943; † 28. Dezember 2022

Die Guardini Stiftung trauert um Bernd Thiemann – Guardini Stiftung e.V.

„Audiatur et altera pars“ war eine seiner Maximen. Aber er war trotzdem ein Freund der schnellen, umweglosen Entscheidungen, wobei er stets auch solchen Mit- und Gegenspielern Respekt zollte, die ihm in Wesensart und Auftreten fremd blieben. Konsentiv geschlossene Milieus fand er bedenklich, und er konnte mit mildem Spott jene parodieren, deren Lebens- und Erfolgsweg sich allzu großer Selbstgerechtigkeit, um nicht zu sagen Selbstgefälligkeit verdankte. Überhaupt die Lebensart: Als fein- und kunstsinniger Mensch, der Mozart über alles liebte, hatte er durchaus auch ein Faible für eher barocke Persönlichkeiten, vielleicht, weil er deren Largesse zu schätzen wusste. Voraussetzung für die Sympathie, die er diesen entgegenbringen konnte, war indes, dass sich deren Lebenssinn nicht im Banalen und Schalen erschöpfte. Zuwider waren ihm Pedanterie und Philistertum: „Das ist ja nicht mehr nur Karo, das ist ja schon Pepita“, pflegte er zu sagen, wenn eine Verhandlung oder eine Erörterung ins Kleinteilige und Mikromanische abzugleiten drohte. Zelotentum war ihm ebenso unerträglich wie die Welt der Adabeis, wie man in Salzburg, einem seiner Sehnsuchtsorte, diejenigen zu charakterisieren pflegt, die sich im allzu Zeremoniösen einrichten. Die Höflichkeit gebot ihm dann, ernste Miene zum belang- und mitunter würdelosen Spiel zu machen.

Er war jemand, der – was natürlich eine zulässige Übertreibung ist – alle für sich einzunehmen wusste, der jeden, dem er begegnete, mit großer Aufmerksamkeit bedachte, der eine Courtoisie kultivierte, die heutzutage immer seltener zu finden ist. Der gesellschaftliche Rang, das Prestige und der Status des Gegenübers spielten keine Rolle, ihm war die Person wichtig; ihrem authentischen Kern zu begegnen, darauf kam es ihm an. Thiemann hatte hohe Erwartungen an Mitstreiter, Kollegen und Mitarbeiter, Erwartungen, die diese nicht immer zu erfüllen imstande waren. Aber in solchen Fällen ist er mit der ihm eigenen Nachsichtigkeit über das Misslingen hinweggegangen oder hat die Fehler bei sich selbst gesucht, das heißt ungeheuchelte Verantwortung übernommen. Umgekehrt hat er allen das Gefühl gegeben, dass das augenblicklich Gemeinsame das Wichtigste sei, das man gerade unternehmen könnte. Ihm kam bei alledem zugute, dass er über ein enormes Gedächtnis verfügte – er hat alles registriert und in sich aufbewahrt: Fakten ebenso wie Namen und Gesichter. Das Interesse an Themen und Menschen ungeteilt, dabei immer die Pluralität der Lebensrichtungen respektierend: eine Gnade in den Zeiten allgemeiner Unschärfe. 

Thiemann wurde 1943 im westfälischen Münster geboren, wenige Wochen und Monate bevor die Stadt durch die alliierten Bomber zerstört wurde. Seine Familie war von altem Münsteraner Schlag, von Vater und Großvater waren ihm viele Namen der kirchlich-theologischen Kreise vertraut, natürlich auch der des unerschrockenen Bischofs und Kardinals von Galen, der den braunen Machthabern Paroli bot und damit dem (politischen) Katholizismus zur Ehre gereichte. Man konnte Thiemann einen Namen oder ein Stichwort liefern – christlicher Existenzialismus, (Neo-)Thomismus, Peter Wust, Josef Pieper, um nur einige Beispiele zu nennen –, sofort wusste er von einer Begebenheit zu berichten, die aus den Begegnungen seiner Familie mit den Genannten oder entsprechender Kreise herrührten. Dabei verschlug es ihn selbst in eine ganz andere Richtung, fernab des akademischen Milieus, trotz gelegentlicher Ausflüge in die Geisteswissenschaften (er „schnupperte“ während seines Studiums in Münster und Freiburg „auch mal bei Heidegger rein“ – ohne sonderlich beeindruckt worden zu sein). Er widmete sich der Rechts- und Staatswissenschaft, promovierte 1973 zum Dr. jur., war aber – sozusagen nicht ganz regelkonform – im Bankwesen tätig, ein Umstand, der letztlich seine steile Karriere in der Finanzwirtschaft bestimmte.

Schon 1976 trat er in den Vorstand der Nord/LB ein, übernahm dort fünf Jahre später den Vorstandsvorsitz und wurde 1991 Vorstandsvorsitzender der Frankfurter DG Bank, die seinerzeit zu den vier größten deutschen Banken zählte. Thiemann nahm zeit seines aktiven Berufslebens (und weit darüber hinaus) zahlreiche Aufsichtsratsmandate wahr, darunter auch einiger Global Player wie – in der Funktion des Aufsichtsratsvorsitzenden – der SAP. Er fungierte in dieser Zeit, die durch keinen eigentlichen Ruhestand abgelöst worden ist, oftmals als von der Wirtschaft und der Politik gleichermaßen erwünschter „trouble shooter“ für systemrelevante Problemfälle. Sein Name wurde in Schattenkabinetten gehandelt (was ihm missfiel), er galt als erfolgreicher Sanierer, dessen Expertise sich viele sichern wollten. Wobei das Attribut „Sanierer“ im Falle Thiemanns nicht das wiedergibt, was man sich gemeinhin, weil von Medien inszeniert, vorstellt: als beinharter „Ausputzer“, dem das „cost cutting“ das Maß aller Dinge ist, der also nur auszumerzende Kostenträger im Blick hat. Ganz im Gegenteil: Thiemann führte aus Unternehmenskrisen (und, wenn man so will, Branchenkrisen) zusammen mit den Belegschaften für die Belegschaften und letztlich zugunsten der Allgemeinheit. Seine einstigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter danken es ihm noch heute: Er hatte stets ein offenes Ohr (und eine, wie viele sich noch erinnern, im buchstäblichen Sinne offene Tür), er galt, wie es heute heißt, als „nahbar“, loyal und unverstellt. Nicht von ungefähr: Thiemann vertrat ein werteorientiertes Unternehmertum, „Werte schaffend und Werte pflegend“, wie er, auch in öffentlichen Interventionen, immer wieder betonte bzw. einklagte. Das böse Wort des Wirtschaftspublizisten und Carl-Schmitt-Schülers Johannes Gross, wonach der, der von Werten redet, die Moral schon hinter sich gelassen habe, traf auf ihn nicht zu. Thiemann sprach in der Ära der ubiquitären Ethikdiskurse ausdrücklich auch von Moral, hielt seinen Glauben nicht verborgen (was „in der Gesellschaft“ mit dem Odium des Privaten, Allzuprivaten, über das man sich auszuschweigen habe, behaftet war). Er, der stets nach den „Prinzipien des ehrbaren Kaufmanns“ handelte, verabscheute ein Geschäftsgebaren, bei dem man aus Anlass eines Vertragsabschlusses, wie er sich gelegentlich mokierte, „in den Keller gehen muss, damit niemand draußen sieht, was da unterschrieben wird“. Und es war ihm wichtig, dass die Wirtschaft den Dialog mit der Gesellschaft(-swissenschaft) pflegte. Er selbst stand bis zu dessen Tod in Kontakt mit Oswald von Nell-Breuning SJ, dem an der Frankfurter Hochschule St. Georgen lehrenden Nestor der katholischen Soziallehre, und er organisierte in den 90er Jahren zwei viel beachtete Kongresse (u. a. mit dem frischgekürten Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen und dem nachmaligen Friedens-Nobelpreisträger Muhammad Yunus, dem „Bankier der Armen“).

Thiemann bekannte sich zu Pflichttreue und Verantwortung, und das implizierte, dass er sein Augenmerk auch auf das richtete, was nicht zu „seinem“ Kerngeschäft gehörte, ohne dieses Interesse als Distinktionsgewinn, der auf die eigene Person einzahlte, zu verbuchen und damit herabzuwürdigen: auf die Kunst, auf die Glaubensangelegenheiten, auf die Wissenschaft. Von daher versteht sich auch sein Engagement für die Guardini Stiftung, der er 2001 auf Bitten Hermann Josef Schusters beigetreten ist und alsbald als Kuratoriumsvorsitzender fungierte. Nichts kennzeichnet seine Motivation, sich in den Dienst der Stiftung zu stellen, besser als jenes Zitat von Romano Guardini, das den programmatischen Kern in Thiemanns Beitrag zum Jubiläumsband „20 Jahre Guardini Stiftung“ bildete: „Mir ist klar geworden, was christliche Weltanschauungslehre besagt: die beständige, sozusagen methodische Begegnung zwischen dem Glauben und der Welt“.

Nur selten mischte sich Thiemann in Programmfragen ein, die überließ er, wie es ihm selbstverständlich erschien, ausnahmslos den Kollegen vom Fach. Gelegentlich kokettierte er damit und zitierte mit ironischer Geste den Wrangel aus Schillers „Wallenstein“: „Ich hab’ hier bloß ein Amt und keine Meinung.“ Wie zum Beweis des Gegenteils kam er dem Ruf in das Präsidium der Stiftung nach – dies auch, um zu betonen, wie wichtig ihm das wichtigste Ehrenamt von allen war, die er während seines langen Lebenswegs begleitete. Seine Hauptaufgabe aber sah er in der Beschaffung jener Mittel, die für den Dialog von Glauben, Wissenschaft und Kunst gemäß der Programmformel – des nicht gerade mit üppigen Stiftungsvermögen ausgestatteten – Vereins erforderlich waren. Dabei kamen ihm die zahlreichen Kontakte in der Wirtschaft, aber auch in den öffentlichen und gesellschaftlichen Institutionen, zugute. Sein Freundeskreis reichte vom früheren Bundeskanzler Helmut Kohl über Unternehmer wie Reinhold Würth bis hin zu dem Stararchitekten Frank O. Gehry, dem es Thiemann als der seinerzeitige „Bauherr“ der noblen Adresse Pariser Platz 3 ermöglichte, seine Visitenkarte im Berlin der Nachwendezeit abzugeben.

Der Kuratoriumsvorsitzende war ein begnadeter Netzwerker und Strippenzieher, der es geradezu meisterhaft verstand, Außen- und Fernstehende für die Ziele der Stiftung zu begeistern. Die Trias Bernd Thiemann, Hermann Josef Schuster, der langjährige Vizepräsident, und Ludwig von Pufendorf, der langjährige Präsident, garantierte den Erfolg der Guardini Stiftung auf der Berliner und der internationalen Bühne. Und doch: Das Erfolgsmodell war kein Selbstläufer. Immer wieder musste um den Bestand und das Fortbestehen der Stiftung und des Stiftungslehrstuhls gekämpft werden. Wenn Gefahr drohte – und es gab deren viele Momente in der Stiftung –, dann war der oberste Kassenwart schon längst alarmiert, dann hatte er seiner frühzeitigen Diagnose („Der Winkel wird spitzer!“) entsprechend schon mögliche Auswege und Abhilfen sondiert. Der ihm eigene Sensus für die Disposition möglicher Unterstützer half ihm, die Quellen ausfindig zu machen, die für das ambitionierte Programm hinreichend ergiebig waren. Seine Einzelspenden dürften sich zur größten privaten Spende summieren, welche die Stiftung in den bisher 35 Jahren ihrer Existenz je erhalten hat. Kurzum: Er hat es der Stiftung nie an „finanzieller Nestwärme“ fehlen lassen.

Wollte man all das auf einen Nenner bringen, so müsste dieser lauten: Es gibt Menschen, von denen man sich allein schon durch den Umstand beschenkt fühlt, dass man sie kennt – Bernd Thiemann war einer von ihnen.

Den 80. Geburtstag, der, wie Karl Rahner einmal vom Religionsphilosophen Pinchas Lapide erfahren haben will, „den Juden als Tag des Eintritts in die Weisheit gilt“, hat er nun nicht mehr erlebt. Tröstlich zu wissen, dass der Verstorbene dieses Alters nicht bedurfte, um zur Weisheit gefunden zu haben.

Die Guardini Stiftung trauert um einen ganz Großen in ihren Reihen. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Unser Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen – seiner Frau, die bei vielen Gelegenheiten in der Stiftung zugegen war, seiner Tochter, seinem Bruder sowie den beiden Enkeltöchtern und den zwei Enkelsöhnen.

Kategorien: