Guardini Professur
Verabschiedung von Prof. Dr. Ugo Perone
Ansprache zum Semesterabschlussgottesdienst im Sommersemester 2021
Von Prof. Dr. Katharina Pyschny
Biblische Texte: Sir 25,1–12 | Lk 2,41–52
Gallina vecchia fa buon brodo. Diese Redewendung, die im Deutschen wörtlich mit „Ein altes Huhn gibt gute Suppe“ wiedergegeben wird, hat im Italienischen eine viel tiefere Bedeutung als diese doch recht eigentümlich anmutende Eins-zu-Eins-Übersetzung erahnen lässt. Denn im Italienischen wird dieses Sprichwort insbesondere verwendet, um auf einen Menschen hinzuweisen, der sich im positiven Sinne auf langjährige Erfahrungen und viele erworbene Kompetenzen berufen kann. Darauf aufbauend kann es auch eine Person bezeichnen, die eben aufgrund dieser vielfältigen Lebenserfahrungen ein guter Berater oder Freund ist. Im übertragenen Sinne bedeutet diese Redewendung also: Gerade das Alter hat seine Reize.
Eine durchaus ähnlich positive Bewertung des Alters findet sich in der soeben gehörten alttestamentlichen Lesung, wo ein gewisser Jesus Sirach konstatiert: „Wie gut steht den Weißhaarigen Urteilskraft an und den Ältesten Rat zu wissen. Wie gut steht den Alten Weisheit an und den geehrten Männern Überlegung und Rat. Die Zierde der Alten ist reiche Erfahrung, ihr Ruhm ist die Furcht des Herrn.“ (Sir 25,4–6) Die hier zum Ausdruck kommende hohe Wertschätzung des Alters ist tief in der alttestamentlichen Weisheitskonzeption verwurzelt. Diese geht davon aus, dass Lebenserfahrung, besonnener Ratschlag, reflektiertes Urteil, Weisheit und eine intakte Gottesbeziehung in der Altersweisheit zusammenkommen. Dabei ist dies keinesfalls als ein Automatismus gedacht, sondern hängt wesentlich von der Verwirklichung einer gelungenen und ausgeglichenen Gottesbeziehung ab.
Die Wertschätzung des Alters in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur hat in der biblisch-anthropologischen Forschung oft dazu geführt, dass Jugend und Alter entweder recht isoliert voneinander als unterschiedliche Lebensphasen des Menschen verstanden oder aber scharf voneinander abgegrenzt und gewissermaßen gegeneinander ausgespielt worden sind. Letzteres lässt sich wie folgt zugespitzt formulieren: Während das Alter mit Lebenserfahrung, Weisheit sowie Besonnenheit verbunden ist, wird die Jugend mit Leichtsinn, Übermut und Torheit assoziiert. Doch wie so oft in der Bibel, liegt der Teufel bekanntlich im Detail! Wirft man einen etwas genaueren Blick auf die alttestamentliche Weisheitskonzeption, so wird schnell deutlich, dass Jugend und Alter eben nicht kontrastiert oder gar gegeneinander ausgespielt werden. Beide Lebensphasen sind grundsätzlich positiv bewertet und werden sogar über die Weisheit konstitutiv miteinander verbunden. Um es mit den Worten der heutigen alttestamentlichen Lesung zu sagen: „Wenn du in der Jugend nicht gesammelt hast, wie kannst du dann in deinem Alter finden?“ (Sir 25,3). Und hier ist eindeutig die Weisheit im Blick! Der Weg zu einem durch Lebenserfahrung und Weisheit erfüllten Alter ist also nicht gänzlich unabhängig von der Jugend. Im Gegenteil, bereits in den Jugendtagen wird im Streben nach Weisheit sowie einer verantwortlichen Lebensführung ein wichtiges Fundament für eine ehrenvolle Alterszeit gelegt. Dabei sind die jungen Menschen angehalten, ihre eigene Lebensführung an der Weisheit und Lebensführung der Alten auszurichten und ihnen darin nachzufolgen. „In die Schar der Alten reihe dich ein, und ihrer Weisheit schließe dich an“, formuliert Sir 6,34. Dabei gelten die Alten im weisheitlichen Denken nicht nur als Bewahrer der Tradition, sondern haben zudem die Aufgabe, die Tradition als Quelle der Weisheit an die jüngere Generation weiterzugeben. Ihre Weisheit wiederum speist sich unter anderem auch aus der Weisheit vorangegangener Generationen. Um es erneut mit den Worten von Jesus Sirach zu sagen: „Verachte nicht die Erzählungen der Alten, die sie selbst von ihren Vätern gehört haben. Denn durch sie erhältst du Einsicht, um im rechten Augenblick eine Antwort zu geben.“ (Sir 8,9) Das Streben nach Weisheit und das Erlangen von Wissen ist also ein generationenübergreifendes Projekt. Genau dieses Moment wird auch in dem soeben gehörten Evangelium deutlich, wenn der zwölfjährige Jesus seinen Eltern ausbüxt und sich nicht nur in den Tempel begibt, sondern – und das wird oft in den Auslegungen dieser Erzählung unterschlagen – sich ausgerechnet unter die Lehrer setzt, ihnen zuhört und Fragen stellt. Keineswegs zufällig endet diese Perikope dann mit der Feststellung: „Jesus aber wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen.“
In der Vorstellung von Weisheit als einem generationenübergreifenden Projekt ergibt sich meiner Meinung nach eine interessante Parallele zu unserem neuen Institut für Katholische Theologie, wo nicht nur innerhalb des Professoriums, sondern auch innerhalb der Studierendenschaft Personen verschiedenen Alters zusammenkommen und gemeinsam nach Wissen und Erkenntnis streben. Vor allem in der Neugründungs- und Formationsphase unseres Instituts konnten wir uns auf die breite Fachexpertise von Ugo Perone, seine vielfältigen und internationalen Lehrerfahrungen sowie seine Kenntnisse rund um den Berliner Hochschul- und Stadtkontext verlassen. Insbesondere für mich als Juniorprofessorin repräsentiert Ugo, alttestamentlich gesprochen, einen Weisheitslehrer par excellence. Und ich möchte diesen Semesterabschlussgottesdienst, der sich in besonderer Weise seiner Verabschiedung widmet, zur Gelegenheit nehmen, diesen Gedankengang im Gespräch mit der alttestamentlichen Weisheitskonzeption anhand von drei kurzen Beispielen zu konkretisieren. Dabei gehen die folgenden Ausführungen nicht nur auf meine persönlichen Begegnungen mit Ugo zurück, sondern im Wesentlichen auch auf diejenigen von Studierenden und Mitarbeiter*innen. Ich möchte mich also ausdrücklich bei allen Personen bedanken, die mir ihre Eindrücke haben zukommen lassen.
Weisheit als reflektierter Umgang mit Wissen
In der alttestamentlichen Weisheitskonzeption geht Weisheit und Wissen niemals in reiner Theorie oder Kognition auf. Vielmehr ist Weisheit ein aus dem Alltag gewonnenes, auf Praxis zielendes, reflektiertes Lebenswissen. Anders formuliert: Weisheit ist ein reflektierter Umgang mit Wissen, der sich aus Tradition und Erfahrung speist. In seiner rund 9-jährigen Tätigkeit als Guardini Professor ist es Ugo Perone als Philosoph, Pädagoge, Theologe und nicht zuletzt als wunderbarer Mensch gelungen, Studierende diverser Fachrichtungen, unterschiedlicher Herkunft, verschiedenen Alters sowie diverser religiöser bzw. nicht-religiöser Einstellungen zu begeistern und anzuregen. Wie kaum ein anderer hat er – und hier kann ich eine kleine neidvolle Note nicht ganz verbergen – die Vorlesungssäle bis zum letzten Platz gefüllt. Ugo verfügt über eine schier unendliche Breite von Wissen, ohne dabei als „Alleswisser“ oder gar „Besserwisser“ aufzutreten. Im Gegenteil! Er steht dazu, etwas nicht zu wissen, und ist immer bereit – ja geradezu begierig darauf und ungeduldig – etwas Neues dazu zu lernen. Dabei scheut er nicht davor zurück, seine eigenen Standpunkte zu überdenken. Das Professorendasein ist für Ugo kein Selbstzweck! Vielmehr stehen für ihn die Studierenden im Zentrum des Geschehens. Seine Vorlesungen und Seminare beziehen die Studierenden auf lebendige und interaktive Weise mit ein. Es gab keinen einzigen studentischen Beitrag, der nicht aufgenommen, durchdacht und für alle Teilnehmenden argumentativ produktiv gemacht worden wäre. Denken statt dozieren und reflektieren statt belehren – so ließe sich Ugos Lehr- und Lernphilosophie auf den Punkt bringen!
Weisheit als Befähigung zu einem gelingenden Leben
Im Alten Testament will Weisheit nicht nur praxisbezogene Orientierung und Regeln bieten, sondern zielt insbesondere auf die Befähigung zu einem umfassend gelingenden Leben in einem ganzheitlichen Sinne. In seinen zahlreichen und vielfältigen Lehrveranstaltungen sowie wissenschaftlichen Aktivitäten ist Ugo diesem Grundsatz stets treu geblieben. Auf vielfache Art und Weise hat er den philosophischen Horizont der Studierenden erweitert, sei es durch die thematische Breite, die diversen Genres der Philosophie oder seine unkonventionelle und brückenschlagende Autoren- und Literaturauswahl, die unter anderem auch die im deutschsprachigen Raum unterrepräsentierte italienische hermeneutische Schule in den Blick nahm. Indem er stets die Reflexion des Verhältnisses von Theologie und Philosophie sowie Glaube und Philosophie praxisorientiert und gesellschaftsnah mitbedachte, hat er den Studierenden das Programm der Guardini Stiftung im wahrsten Sinne des Wortes vorgelebt. Gleiches lässt sich ebenso von seinem Ernst in der Sache, seiner Art zu denken und seinen Eindruck von der Welt zu vermitteln, seiner Suche nach Präzision im Ausdruck seiner Gedanken, seinem interaktiven Forschen und Lehren sowie seinem Umgang mit Kolleg*innen, Mitarbeiter*innen und Studierenden sagen. Ugo hat all diese Personen mit seiner Forschung und Lehre nachhaltig beeindruckt, geprägt, begeistert, inspiriert und nicht zuletzt dazu motiviert, eigene Standpunkte zu entwickeln und diese auch selbstbewusst argumentativ zu vertreten. Hinzukommt natürlich noch der Anreiz Sprachen – insbesondere das Italienische – zu erlernen, was die Praxisrelevanz der Philosophie noch einmal auf einer ganz anderen Ebene hat aufscheinen lassen!
Weisheit als Lebenskunst
In einem weisheitlichen Verständnis kann ein gelingendes Leben sowohl die Vermeidung von Krisen als auch die Bewältigung einer eben solcher bedeuten. Weisheit ist damit handlungsorientiert und wird so zur Lebenspraxis – oder anders formuliert – zur Lebenskunst. In der Tat bedarf das Leben in Berlin zweifelsohne eines Überlebenskünstlers und Ugo hat sich von Beginn an souverän durch diverse akademische, politische und religiöse Gemengelagen navigiert und dabei niemals das Wesentliche aus dem Blick verloren: eine wissenschaftliche und internationale Philosophie, die sich produktiv in die Fächervielfalt der HU einbringt und in die Berliner Gesellschaft hineinstrahlt.
Oftmals hat Ugo mit seiner Heiterkeit, seinem Humor und seiner Leidenschaft für die Sache die manchmal durchaus herausfordernden strukturellen Rahmenbedingungen seiner Professur vergessen oder sie gar nicht erst aufkommen lassen. Insbesondere im verwaltungstechnischen Gewirr der HU hat er einige Male rechnerisches Geschick bewiesen und damit die eine oder andere Krise abgewendet bzw. vermieden. Nach dem Umzug an unser Institut hat er sich offen und kompetent an der Erarbeitung unseres Forschungsprogramms beteiligt und auch wesentlich zur Sichtbarkeit des Instituts an der HU beigetragen. Dem manchmal doch recht steifen deutschen Hochschulkontext begegnet er stets mit einer heilsamen dolce vita und ist sich niemals für Geplänkel zwischen Kolleg*innen zu schade – sei es über die besten italienischen Restaurants in Berlin oder die Fußball-Europameisterschaft, die natürlich in diesem Jahr Italien gewinnen muss
„Selig, wer Klugheit findet und der zu Ohren spricht, die zuhören“ (Sir 25,9), so formuliert es Jesus Sirach. Ugo Perone hat diese Spruchweisheit als Guardini Professor an der HU in vielerlei Hinsicht gelebt und uns damit ein glänzendes Vorbild für die Zukunft gegeben. Zum Abschied bleibt nur, danke zu sagen! Lieber Ugo, danke für alles! Wir werden dich schrecklich vermissen und niemals vergessen!